Gegen das vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 13.06.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 7)

Im Juli 1942 stattete Heinrich Himmler dem Lager einen Besuch ab. Am 17 Juli fuhr der Reichsführer-SS in das Lager ein, 15 Monate nach seiner ersten Inspektionsreise. Kazimier Smolén, einer der polnischen politischen Gefangenen, kannte Himmler noch von früher:“ Er sah nicht unbedingt wie ein Militär aus. Er trug eine Brille mit Goldrändern. Er war etwas dick und hatte einen kleinen Spitzbauch. Er sah aus wie – es tut mir leid, ich will niemanden zu nahe treten - , er sah aus wie ein Dorfschullehrer.“

Bei seinem Besuch sah der gewöhnlich wirkende Mann mit Brille und einem kleinen Spitzbauch ein völlig verändertes Lager, mit einem völlig neuen, im Bau befindlichen Komplex in Birkenau. Er studierte eingehend die Pläne für die geplante Erweiterung des Lagers und besichtigte das rund 60 Quadratkilometer große Sperrgebiet             („ Interessengebiet des KL Auschwitz“) rund um das Lager, das unmittelbar der Lagerverwaltung unterstand. Dann verfolgte er sie Selektion eines neu eingetroffenen Transports und die anschließende Vergasung im „weißen Häuschen“. Danach wohnte Himmler einem Empfang ihm zu Ehren im Haus von Gauleiter Bracht im nahe gelegenen Kattowitz bei. Am folgenden Tag kehrte er zurück und besichtigte das Frauenlager in Auschwitz Birkenau. Hier war Himmler Zeuge der Bestrafung einer der weiblichen Häftlinge mit 25 Stockhieben, einer Strafe, die er selbst genehmigt hatte. Am Ende war Himmler so befriedigt über das, was er in Auschwitz gesehen Hatte, dass er den Lagerkommandanten Rudolf Höß in den Rang eines Obersturmbannführers beförderte.

Mit der Karriere von Höß ging es aufwärts. Der Besuch des Reichsführers-SS war ein enormer Erfolg. Doch es blieb noch ein letztes Problem: Seine SS-Oberen waren besorgt über die große Zahl gelungener Fluchtversuche aus dem Lager. Solche Ausbrüche waren kein neues Phänomen in der Geschichte des Lagers: Der erste, der schriftlich überliefert ist, ereignete sich bereits am 6. Juli 1940. Doch was zu einer Warnung führte, die im Sommer 1942 an alle KZ-Kommandanten weitergegeben wurde, waren die Umstände eines besonders wagemutigen Ausbruchs aus Auschwitz, der sich nur wenige Wochen vor Himmlers Besuch ereignet hatte.

Ausgedacht hatte sich den Plan Kazimier Piechowski, ein polnischer politischer Gefangener, der sich seit 18 Monaten in Auschwitz befand. Er war sich der damit verbundenen Risiken mehr als bewusst: „Es hatte bereits die verschiedensten Fluchtversuche gegeben, doch die meisten scheiterten, denn sobald beim Morgenappell eine Person vermisst wurde, begannen die SS-Männer und die Kapos, den Vermissten mit besonders ausgebildeten Hunden zu suchen, und dann fanden sie ihn unter ein paar Brettern oder zwischen Zementsäcken versteckt. Wenn sie ihn dann gefunden hatten, hängten sie ihm ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: „Hurra! Hurra! Ich bin wieder da!“, und dann musste er eine große Trommel schlagen, im Lager auf und ab und schließlich zum Galgen gehen. Er ging sehr langsam, als wollte er sein Leben verlängern.“ Ein anderer beunruhigender Gedanke für jeden potentiellen Ausbrecher waren die furchtbaren Konsequenzen für die zurückgebliebenen Häftlinge, wenn sich herausstellte, dass jemand aus ihrem Block geflohen war. Wie im Fall von Pater Maksymilian Kolbe wurden zehn Häftlinge aus dem Block des Entflohenen ausgesondert, die zum Tod durch Verhungern verurteilt wurden. „Das rief bei manchen Häftlingen eine regelrechte Lähmung hervor“, sagt Piechowski, „ doch andere wollten nicht darüber nachdenken, was passieren würde. Sie wollten um jeden Preis dieser Hölle entrinnen.“

Bevor Piechowski vor diesem doppelten Problem stand, aus dem Lager auszubrechen und gleichzeitig Repressalien gegen die Zurückgebliebenen zu vermeiden, musste er zunächst ein näher liegendes Hindernis überwinden, das darin bestand, einfach zu überleben. Zunächst arbeitete er im Freien im Schnee in einem der schlimmsten Kommandos überhaupt: „Die Arbeit war schwer und das Essen miserabel. Ich war auf dem besten Weg, ein ‚Muselmann‘ zu werden – so haben die SS-Männer Häftlinge bezeichnet, die jeden Kontakt zur Realität verloren hatten. Ich fühlte mich hilflos.“ Dann wurde er der Nutznießer eines unerwarteten Glücksfalls. Er wurde für ein anderes Arbeitskommando ausgewählt: „Ich schloss mich diesem Kommando an und während wir durch das Lagertor gingen, frage ich den Mann neben mir: ‚Wo gehen wir hin?‘ Und er sagte: ‚Du weißt es nicht? Na, du hast gewonnen! Weil wir im Magazin arbeiten. Es ist Schwerarbeit, aber du bist wenigstens nicht draußen in der Frostkälte. Du hast ein Dach über dem Kopf‘. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.“ Piechowski stellte zudem fest, dass das Arbeiten im ‚Himmel‘ des Magazins noch einen besonderen Vorteil hatte: „Meine Kameraden sagten mir, wenn wir einen Wagen mit Mehl beladen müssten, sollte ich den Sack beschädigen, so dass das Mehl auslief. Die Wache würde uns dann befehlen, ihn auf den Müll zu werfen. Aber das haben wir nicht gemacht. Wir haben das Mehl mit Wasser verrührt und Ravioli daraus gemacht.“ Nach dieser glücklichen Wendung schöpfte Piechowski neue Hoffnung, doch noch überlegen zu können.

Eines Tages, kurz nachdem er der Kolonne für das Magazin zugeteilt worden war. Hatte er ein Gespräch mit einem ukrainischen Häftling namens Eugeniusz Bendera, der in der nahe gelegenen SS-Werkstatt als Mechaniker arbeitete. „Er ging morgens gemeinsam mit uns zur Arbeit und abends wieder zurück, und eines Tages vertraute er mir an, er habe erfahren, dass er auf der Todesliste stehe – es gab immer wieder Selektionen. Er sagte zu mir: ‚Kazik, was soll ich tun? Ich steh auf der Todesliste!‘ Ich sagte ihm: ‚Da kann ich gar nichts machen.‘ Aber er ließ nicht locker und sagte: ‚Kazik, warum versuchen wir nicht, von hier wegzukommen?‘ Für mich war das ein Schock – wie sollten wir das schafften? Und er sagte: ‚Na mit einem Wagen, Ich kann jederzeit an einen Wagen kommen.‘ Und ich begann darüber nachzudenken, ob es eine Möglichkeit war. Und ich sagte Genek, wir bräuchten auch ein paar Uniformen – SS-Uniformen.“

An diesem Punkt kamen die Gedanken an eine Flucht nicht weiter. Wie sollten sie jemals an SS-Uniformen herankommen? Doch wieder stand ihnen das Glück zur Seite. Piechowski erhielt von seinem Kapo den Auftrag, in den zweiten Stock des Magazins zu gehen, in dem sie arbeiteten, um ein paar leere Kartons zu holen. Während er oben einen Gang entlangging, sah er auf einer der Türen die deutsche Aufschrift „Uniformen“. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Doch an einem der folgenden Tage wurde er von seinem Kapo wieder nach ober geschickt, und diesmal stand die Tür einen Spalt weit offen. „Da hatte ich nur noch den einzigen Gedanken“, sagte Piechowski, „reinzugehen und zu sehen, was passieren würde. Ich öffnete also die Tür ganz, und im Zimmer stand ein SS-Mann, der gerade etwas in einem Regal verstaute und sofort auf mich losging und nach mir trat. Ich stürzte zu Boden. ‚Du Schwein!‘ sagte er. "Du polnischen Schwein, du Hund, was hast du hier zu suchen? Du meldest dich sofort im Hauptbüro, du polnischen Schwein" und ich machte mich schleunigst davon.“

Doch Piechowski wusste, dass es für ihn die Zuteilung zum Strafkommando und den sicheren Tod bedeuten würde, wenn er meldete, dass er das Zimmer betreten hatte. Also unternahm er nichts und hoffte das Beste, und das Beste trat tatsächlich ein. Er entging jeglicher Bestrafung, weil der SS-Mann, den er aufgestöbert hatte, den Zwischenfall nicht weiter verfolgte – eine weitere glückliche Wendung in einer Serie glücklicher Zufälle. Er hatte gesetzt und gewonnen, da er zudem erspähen konnte, was sich eigentlich in dem Zimmer befand: Uniformen, Handgranaten, Munition, Stahlhelme, eigentlich alles, was er und sein Kamerad für die Flucht benötigen.

Quelle: Laurence Rees „Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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