Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 21.07.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 8)

Der beste Tag für ein Fluchtunternehmen war ein Samstag, da die SS an Wochenenden in diesem Bereich des Lagers nicht arbeitete. Und Piechowski dachte sich eine Möglichkeit aus, sich einen Zugang zum Magazin zu verschaffen, indem er eine Schraube an einer Bodenklappe entfernte, hinter der sich eine Luke zum Kohlenkeller befand.

Vom Kohlenkeller aus gelangte man in das übrige Gebäude. Jetzt war Piechowski entschlossen, den Ausbruch zu versuchen, bis ihn in seiner Schlafkoje ein „Donnerschlag“ traf. Ihm kam urplötzlich zu Bewußtsein, dass „ für jeden Flüchtling zehn Häftlinge getötet werden. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen – dieser Gedanke quälte mich“, sagte er, „bis mir im Bruchteil einer Sekunde die Lösung einfiel. Es gab eine Möglichkeit: Ein fiktives Arbeitskommando.“ Piechowskis Plan sah vor, dass vier von ihnen das Hauptlager als ein vorgebliches „Rollwagenkommando“ verließen und einen Wagen schoben. Danach würden sie sich aus der inneren Sicherheitszone offiziell abmelden und sich in der äußeren Sicherheitszone befinden, in der viele Häftlinge arbeiteten. Wenn sie anschließende verschwanden, war es möglich, dass allein der Kapo für ihren Block zur Rechenschaft gezogen wurde, da man annehmen würde, dass er das Kommando genehmigt hatte.

Es war ein gewagter Plan, und zu seiner Verwirklichung mussten sie zwei weitere Häftlinge finden, die bereit waren, das Risiko auf sich zu nehmen, weil ein Rollwagenkommando aus vier Männern bestand. Bendera gewann sofort einen der Priester in seinem Block für das Unternehmen, Jósef Lempart, doch dann trat eine neue Schwierigkeit auf. Piechowski offenbarte sich einem seiner engsten Freunde, doch dieser sagte, er werde sich nur beteiligen, wenn er noch einen Zweiten mitbringen könne. Das war unmöglich, weil zu einem Rollwagenkommando nur vier Leute gehörten. Der nächste Freund, den Piechowski ansprach, sagte: „Vielleicht gibt es eine Chance, aber sie ist äußerst gering“ und lehnte ab. Schließlich erklärte sich ein Jugendlicher aus Warschau bereit mitzumachen, ein ehemaliger Pfadfinder namens Stanislaw Jaster, auch wenn ihm klar war, dass das Vorhaben „hochriskant“ war.

Jaster erkannte sofort den am wenigsten berechenbaren Punkt, von dem das Gelingen des ganzen Plans abhing – ob die SS-Wachen am Tor der äußeren Sicherheitszone sie durchlassen würden, ohne dass sie irgendwelche Papiere vorzeigen mussten. Falls die Wachen nach Vorschrift handelten und den Wagen anhielten, waren sie erledigt. In einem solchen Fall, darin waren die vier sich einig, würden sie nicht auf die Wachen schießen, sondern ihre Waffen gegen sich selbst richten. Sie befürchteten, dass wenn auch nur ein einziger SS-Mann von ihnen während des Unternehmens getötet würde, das Lager unter furchtbaren Vergeltungsmaßnahmen zu leiden hätte; wahrscheinlich würden 500 oder 1000 Häftlinge getötet.

Samstag, der 20. Juni 1942, war das Datum, das sie für ihren Fluchtversuch festgelegt hatten. Am Morgen legten zwei von ihnen Armbinden an, um den Eindruck von Kapos zu erwecken, und dann schoben alle vier einen mit Abfall beladenen Karren durch das Tor mit der Inschrift „Arbeit macht frei“ in die dahinter liegende äußere Sicherheitszone. „Am Tor“, sagte Piechowski, „sagte ich zur Wache auf deutsch, ‚Häftling 918 und drei andere auf dem Weg zum Magazin.‘ Der Mann notierte es in seinem Buch und ließ und durch.“ Nachdem sie das Tor passiert hatten, begab sich Eugeniusz Bendera zur SS-Werkstatt, um den Wagen vorzubereiten, während die drei anderen durch die Kellerluke in das Magazin gelangten, Dann entdeckten sie, dass die Tür vor dem Gang zur Kleiderkammer mit einer schweren Eisenstange verriegelt war, doch Stanislaw nahm eine Spitzhacke zu Hilfe und öffnete die Tür „mit aller Kraft“. Hastig suchten sie vier passende Uniformen für sich und Bendera zusammen. Außerdem nahmen sie vier leichte Maschinengewehre und acht Handgranaten mit.

Die drei, nunmehr in der Uniform von SS-Männern, wollten gerade das Magazin verlassen, als sie hörten, wie sich draußen zwei Deutsche unterhielten. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte“, sagte Piechowski. „Was, wenn sie hereinkamen? Aber dann geschah ein neues Wunder, wenn Sie an Wunder glauben. Die Männer redeten miteinander ohne das Magazin zu betreten, und gingen einfach wieder weg.“

Durch das Fenster des Magazins gaben sie Bendera ein Zeichen, dass er den Wagen bis wenige Meter vor den Eingang fahren solle. Dann stieg er aus dem Wagen und nahm vor seinen drei freunden in SS-Uniform stramme Haltung an. „Alle 60 oder 70 Meter stand ein Wachturm“, sagt Piechowski, „und die Wache sah zu uns hinüber, aber wir kümmerten uns nicht darum, weil wir unserer Sache sicher waren. Genek nahm seine Mütze ab, sagte etwas zu mir, und ich zeigte auf das Magazin, und dort legte er seine Häftlingskleidung ab und zog die SS-Uniform an.“

Jetzt waren die vier bereit, die gefährlichste Phase ihrer Flucht in Angriff zu nehmen: „Wir fuhren los. Und nach der ersten Kurve sahen wir zwei SS-Männer. Genek sagte: ‚Aufpassen!‘ Wir fuhren an ihnen vorbei, und sie sagten ‚Heil Hitler!‘, und wir taten dasselbe. Wir fuhren vielleicht drei- oder vierhundert Meter und stießen auf einen weiteren SS-Mann, der sein Fahrrad reparierte. Er sah uns an und sagte: ‚Heil Hitler!‘, und wir grüßten zurück. Jetzt fuhren wir auf das Haupttor zu, und die Frage war, ob sie uns wohl ohne irgendwelche Papiere durchlassen würden – wir hielten das für möglich. Das Tor war geschlossen, und rechts davon stand ein SS-Mann mit einem Maschinengewehr, und links stand ein Tisch mit einem Stuhl, auf dem ein SS-Mann saß. Noch 80 Meter, und Genek schaltete in den zweiten Gang, dann noch 50 Meter, und die Schranke war immer noch unten. Sie konnten den Wagen sehen und uns vier in SS-Uniform, und trotzdem ging die Schanke nicht hoch. Etwa 20 Meter davor sah ich Genek an und konnte die Schweißtropfen auf seiner Stirn und seiner Nase sehen. Nach weiteren fünf Metern dachte ich, ‚jetzt bringe ich mich um‘, so wie wir es verabredet hatten. In diesem Augenblick knuffte mich der Priester auf dem Rücksitz in den Rücken – ich wusste, dass die auf mich rechneten. Also brüllte ich die SS-Männer an: ‚Wie lange sollen wir hier noch warten!‘ Ich habe sie beschimpft. Und dann sagte der SS-Mann im Wachtturm etwas, und der Mann am Tisch ließ die Schranke hochgehen, und wir führen durch. Das war die Freiheit!

Quelle: Laurence Rees „Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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