Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 18.08.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Es wird schlimmer (Teil 1)

Am 19. Juli 1942 befahl Himmler, dass die „Umsiedlung der gesamten jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements bis zum 31. Dezember durchgeführt und beendet ist.“ In diesem Kontext war „Umsiedlung“ ein Tarnwort für „Ermordung“. Damit gab Himmler preis, dass er ein Datum für die Vernichtung von Millionen polnischer Juden festgesetzt hatte.

Die Worte Himmlers waren allerdings weniger ein Befehl für die Zukunft als eine abschließende Erklärung. Denn sie waren das Endresultat eines kumulativen Prozesses von Entscheidungen, der bis in eine Zeit noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion zurückreichte, das letzte Glied in einer Kausalkette, die wir erst in der Rückschau erkennen können. Jede der wesentlichen Entscheidungen, die dieser Erklärung vorangingen – die Entscheidung, die polnischen Juden in Ghettos zu konzentrieren, der Befehl hinter den Massenerschießungen im Osten und die anschließenden Vergasungsexperimente, die Entscheidung, die deutschen Juden zu deportieren und dann nach einer Methode zu suchen, „arbeitsunfähige“ Juden in den Ghettos zu töten, um Platz für die deutschen Juden zu schaffen -, alle diese Aktionen und noch einiges andere standen in einem Zusammenhang mit Himmlers Erklärung vom 19. Juli 1942. Die Planungsphase war beendet; die fundamentale Entscheidung war bereits Monate zuvor getroffen worden. Die Nationalsozialisten hatten sich entschlossen, die Juden zu ermorden. Jetzt ging es nur noch um die praktische Umsetzung dieses Entschlusses. Die SS-Männer waren davon überzeugt, dass sie auf praktischem Gebiet Hervorragendes leisteten.

Im Verlauf des Jahres 1942 sollten die Deutschen das Tempo, in dem sie bei der Verfolgung der „Endlösung der Judenfrage“ die Juden Europas umbrachten, enorm steigern. Doch die Tötungskapazität von Auschwitz beschränkte sich auf die Gaskammern des „roten“ und des „weißen Häuschens“ (nachdem regelmäßige Vergasungen im Krematorium des Stammlagers abgebrochen worden waren). Deshalb sollte Auschwitz trotz seiner späteren Bekanntheit bei der Ermordung der polnischen Juden im Jahr 1942 nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Himmler konnte seiner Sache – die Ermordung aller polnischer Juden bis Ende 1942 – nicht deshalb so sicher sein, weil es Auschwitz gab, sondern weil er wusste, dass die Mehrzahl der Massenmorde in drei neuen Lagern durchgeführt würde, die bereits in den Wäldern Polens errichtet waren: drei Orte, die im Unterschied zu Auschwitz kaum in das Bewusstsein der Allgemeinheit eingedrungen sind – Belzec, Sobibór und Treblinka. Dass diese Lager heute nicht in einem Atemzug mit Auschwitz erwähnt werden, ist eine Art schwarze Ironie, da die Nationalsozialisten selbst ihre Namen aus der Geschichte getilgt sehen und sichergehen wollten, dass alle materiellen Spuren von ihnen beseitigt wurden, nachdem sie ihre mörderische Aufgabe erfüllt hatten. Lange vor Kriegsende hatte die SS die Lager zerstört und das Gelände konnte aufgeforstet oder landwirtschaftlich genutzt werden. Dagegen wurde von der Lagerbesatzung in Auschwitz kein Versuch unternommen, das Lager als einen physischen Ort zu zerstören. Sein Vorgänger war ein bewährtes Vorkriegsmodell innerhalb des NS-Systems – das Konzentrationslager - , und diese Vorläufer der Vernichtungslager sollten ursprünglich bewusst nicht den Blicken der Öffentlichkeit entzogen werden. Ein Lager wie Dachau wurde an den Rändern einer Kleinstadt errichtet, und das hatte für das Regime einen propagandistischen Vorteil, weil es mit einem solchen Lager seinen Willen demonstrieren konnte, Personen zu inhaftieren und „umzuerziehen“, die es als seine Gegner betrachtete. Erst nachdem in Auschwitz erstmals Menschen massenhaft ermordet wurden, trat das Schizophrene seiner Aufgabe deutlich hervor – eine geistige Verfassung, welche die Lagerbesatzung dazu bewog, vor dem Verlassen des Lagers die Gaskammern in die Luft zu sprengen, den übrigen massiven Komplex jedoch weitgehend unversehrt zu hinterlassen.

Etwas völlig anderes entstand während des Jahres 1942 in Belzec, Sobibór und Treblinka. Für die Existenz dieser Lager gab es im NS-Staat keine Vorbilder, und es dürfte in der gesamten Menschheitsgeschichte keine Vorbilder dafür gegeben haben. Ihre Anlage orientierte sich an keinem früheren Modell, und in vieler Hinsicht verkörperten ihre Geschichte und ihr Betrieb die Einzigartigkeit der „Endlösung der Judenfrage“ durch den Nationalsozialismus vollkommener als Aschschwitz.

Belzec, das als erstes gebaut werden sollte, war das einzige Lager, dessen Anfänge vor 1942 liegen. Im November 1941 begannen die Bauarbeiten an einem kleinen Lager etwa 500 Meter entfernt vom Bahnhof Belzec, einer abgelegenen Stadt im Südosten des besetzten Polen. Zunächst hatte die SS beabsichtigt, mit diesem Lager ein lokales Problem an Ort und Stelle zu lösen – „arbeitsfähige“ Juden aus der Umgebung zu töten. Ebenso wie in Chelmno die Gaswagen ursprünglich primär dazu gedacht waren, die Juden aus dem Ghetto Lódz zu töten, so sollten in Belzec ursprünglich „unerwünschte“ Juden aus dem Gebiet Lublin getötet werden.

Im Dezember 1941 kam SS-Hauptsturmführer Christian Wirth 1) nach Belzec, um den Posten des Lagerkommandanten anzutreten. Er war 56 Jahre alt. 1939 wurde er Mitarbeiter im Euthanasieprogramm und war einer der Organisatoren der Ermordung von Behinderten durch Kohlenmonoxid. 1941 wurde er in den Distrikt Lublin versetzt, wo er den Auftrag hatte, im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ Vernichtungslager zu errichten, in denen die im Euthanasieprogramm entwickelten Methoden eingesetzt wurden. Wirth war ein Sadist. Einmal wurde er dabei beobachtet, wie er eine Jüdin mit der Peitsche in die Gaskammer trieb, und er ermordete Juden mit seinen eigenen Händen.

In Belzec hatte dieser furchtbare Mann die Möglichkeit, alle seine bisherige Erfahrung im Massenmorden an einem einzigen Ort einzusetzen. Er beschloss, als Mittel zu diesem Zweck Kohlenmonoxid zu verwenden, das nicht wie beim Euthanasieprogramm aus Gasflaschen kam, sondern aus einem normalen Verbrennungsmotor. Die drei Gaskammern selbst wurden in einem Ziegelsteingebäude untergebracht und sollten den Eindruck von Duschräumen erwecken; das Kohlenmonoxid wurde durch die Duschköpfe an der Decke eingeleitet.

Mit der Verwendung von Kohlenmonoxid aus einem Motor und den angeblichen Duschen übernahm Wirth frühere Tötungstechniken. Doch jetzt betrat er mit dem Entwurf für die Anlage dieses Lagers völlig neune Boden und orientierte sich nicht mehr an den bisherigen Anlagen von Konzentrationslagern. Als ersten erkannte er, dass in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle zwischen der Ankunft der deportierten Juden und ihrer Ermordung nur wenige Stunden vergehen würden, was einen ausgedehnten Gebäudekomplex wie in Auschwitz oder Dachau entbehrlich machte. Das Vernichtungslager benötigte im Gegensatz zum Konzentrationslager nur eine geringe Zahl unterschiedlicher Einrichtungen und nur eine geringe Grundstücksfläche. Diese betrug für das Lager Belzec weniger als 300 Meter im Quadrat.

1) Christian Wirth (geboren am 24. November 1885 – gestorben am 26. Mai 1944 in Slowenien) war ein deutscher Polizeibeamter und SS-Sturmbannführer, der maßgeblich an der „Aktion T4“ beteiligt, erster Kommandant des Vernichtungslagers Belzec, und Inspekteur der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ war. Christian Wirth gilt als Beispiel für einen besonders brutalen und unbarmherzigen SS-Mann, der auch von seinen eigenen Leuten gefürchtet wurde. Hiervon zeugen die Beinamen, die ihm von seinen untergebenen SS-Männern gegeben wurden: „Christian der Grausame“, „Der wilde Christian“ und „Stuka“ für Sturzkampfflugzeug. Dieses Bild entstand vor allem aus den Nachkriegsaussagen seiner Untergebenen, die in ihren Gerichtsverfahren davon überzeugen wollten, dass sie sich in einem Befehlsnotstand befanden. Es ist aber z. B. ungeklärt, ob nicht Wirths eigene Leute den tödlichen Schuss in seinen Rücken abfeuerten. Ohne Zweifel war Wirth ein gefürchteter Vorgesetzter: Dazu trug seine sehr direkte und häufig derbe, zudem von Dialektausdrücken durchsetzte Wortwahl bei. Gleichermaßen ging er bei der „Aktion T4“, der „Aktion Reinhardt“ wie auch in Triest gegen Unregelmäßigkeiten in den eigenen Reihen vor, insbesondere gegen die Unterschlagung der Wertgegenstände, die den Mordopfern abgenommenen worden waren. Aufschlussreich sind die Aussagen des SS-Richters Konrad Morgen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess: Morgen schilderte Wirth als einen Mann, der ebenso stolz war auf seine Erfahrungen aus der „Aktion T4“ wie auch auf seinen Beitrag zur „Optimierung“ der Massenmorde der „Aktion Reinhardt“. Am 26. Mai 1944 fand Christian Wirth bei einer Fahrt auf der Straße von Triest nach Rijeka den Tod bei einem Überfall von Partisanen.

Quelle: Laurence Rees „Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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