Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 09.04.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 5)

Die allermeisten jüdischen Kinder, die im Sommer 1942 nach Drancy (Lager in einer ehemaligen Gendarmeriekaserne) verbracht wurden, hatten nicht soviel Glück. Zwischen dem 17. Und 31. August gingen sieben Deportationszüge vom Lager nach Auschwitz ab, in denen die Kinder mitführen, die man in Beaue-la-Rolande und Pithiviers von ihren Eltern getrennt hatte. „An dem Morgen vor ihrem Abtransport zogen wir die Kinder so gut an, wie wir konnten“, sagte Odette Daltroff-Baticle (Eine Inhaftierte, die sich um die Kinder kümmerte).

„Die meisten von ihnen konnten nicht einmal ihren kleinen Koffer tragen. Und ihre Koffer waren durcheinander geraten, wir wussten nicht, was wem gehörte. Sie wollten nicht die Treppe hinunter zum Bus gehen, und wir mussten sie an die Hand nehmen. Nachdem man Tausende von ihnen abgeholt hatte, waren meiner Erinnerung nach vielleicht 80 in der Krankenstation zurückgeblieben, von denen wir hofften, dass wir sie retten könnten – aber kein Gedanke. Eines Tages hat man uns gesagt, dass auch diese 80 abgeholt würden. Und als wir versuchten, sie am Morgen der Deportation die Treppe hinunterzubringen, schrien sie und traten um sich. Sie wollten um keinen Preis hinuntergehen. Die Gendarmen kamen die Treppe hoch und brachten sie schließlich unter großen Schwierigkeiten dazu, dass sie gingen. Einer oder zwei von ihnen schienen etwas traurig über dieses entsetzlich Schauspiel zu sein, das sie mit ansehen mussten.

Jo Nisenmann, damals 18 Jahre alt, verließ Drancy am 26. August in einem dieser Transporte. In dem Zug befanden sich 700 Erwachsene und 400 Kinder, unter ihnen seine zehnjährige Schwester, die „blond und sehr hübsch“ war. Unter den etwa 90 Personen in seinem Waggon waren rund 30 Kinder, die ohne ihre Eltern deportiert wurden. Joe erinnert sich, wie „stoisch“ die Kinder die lange Fahrt in dem Güterzug nach Auschwitz aushielten. „Nach zwei oder drei Tagen kamen wir an der letzten Station vor Auschwitz an. Und sie brauchten ein paar Männer in guter körperlicher Verfassung, da es in der Nähe ein Arbeitslager gab. Also hielten sie den Zug an und holten 250 Männer heraus.“ Jo war einer von ihnen. „Sie trieben uns mit Stöcken ins Freie. Sie ließen es nicht zu, dass wir in den Waggons blieben. Ich habe meine Schwesterdort zurückgelassen…. Doch trotz allem konnten wir uns nicht vorstellen, was mit ihnen passieren würde… Ich erinnere mich nicht, dass sie geweint hätten. Ich sah diese Kleinen, einige von ihnen richtig niedlich, und sie wurden vernichtet. Es war grauenhaft.“

Von all den unzähligen furchtbaren Episoden aus der Geschichte des Völkermords an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist die Geschichte der Ermordung der jüdischen Kinder, die aus Frankreich deportiert wurden, eine der erschütterndsten. In Zentrum dieser Geschichte steht natürlich das schockierende Bild der Kinder, die von ihren Eltern getrennt werden. Aber es ist nicht einfach die grauenhafte Vorstellung von Kindern, die in Lagern wir Beaune-la-Rolande aus den Armen ihrer Mütter gerissen werden, die uns so verstören. Es ist die Tatsache, dass einige Eltern wie die Mütter, die ihren Kindern bei der ersten Razzia sagten, sie sollten davonlaufen, entgegen ihren natürlichen Impulsen handeln und sich von ihren eigenen Kindern trennen mussten, damit diese eine Chance zum Überleben hatten. Das emotionale Trauma, das mit einem solchen Schritt verbunden war, muss verheerend gewesen sein.

Selbst Höß1) entging nicht, dass Familien in Auschwitz um jeden Preis zusammenbleiben wollten. Und obwohl bei der Selektion an der Rampe die Männer von den Frauen und verheiratete Paar voneinander getrennt wurden, machten die KZ-Schergen schnell die Erfahrung, dass es in aller Regel ihren eigenen Interessen zuwiderlief, Mütter gewaltsam von ihren Kindern zu trennen. Obwohl sie wertvolle Arbeitskräfte verloren, wenn sie junge, gesunde Mütter mit ihren Kindern in die Gaskammer schickten, war ihnen doch klar, dass eine gewaltsame Trennung der Kinder von ihren Müttern bei der ersten Selektion derart entsetzliche Szenen zur Folge hätte, dass eine effiziente Durchführung des Vernichtungsprozesses fast unmöglich sein würde. Außerdem würde der Aufruhr, der aus dieser Trennung entstehen würde, mindestens so schlimm sein wie die seelische Verstörung der Mordkommandos, die Frauen und Kinder aus nächster Nähe erschießen sollten – gerad das, was mit den Gasklammern auf ein Minimum beschränkt werden sollte.

Nach den Kindertransporten im Sommer 1942 gelangten die französischen Behörden zu demselben Schluss. Nach dem letzten Deportationszug mit elternlosen Kindern, der am 31. August von Drancy abfuhr, erging eine Anweisung, keine weiteren derartigen Transporte durchzuführen. Zumindest in Frankreich sollten bei den Judendeportationen keine Kinder mehr ihren Müttern entrissen werden; von nun an wurden nur noch vollständige Familien nach Auschwitz geschickt. Aus dieser Tatsache sollte man allerdings keine falschen Schlüsse ziehen, denn die französischen Behörden hatten nicht etwa plötzlich ihr Herz für Kinder entdeckt, sondern vielmehr ebenso wie Höß in Auschwitz erkannt, das es in ihrem eigenen Interesse lag, wenn sie die Kinder nicht von ihren Müttern trennten.

1) Rudolf Höß wurde am 25. November 1900 als Sohn katholischer Eltern in Baden-Baden geboren. 1919 schloss Höß sich dem Freikorps Roßbach an und nahm an Kämpfen im Baltikum, im Ruhrgebiet und in Oberschlesien teil. Danach schlug er sich eine Zeit lang als Tagelöhner durch. Die dabei erlittenen persönlichen Niederlagen ließen ihn den Suizid erwägen, bis er auf die NSDAP (Mitgliedsnr. 3.240) aufmerksam wurde und ihr im November 1922 beitrat. Er war dann an der Ermordung von Walter Kadow am 31. Mai 1923 beteiligt, der verdächtigt wurde, Albert Leo Schlageter an die Franzosen verraten und damit seine Hinrichtung verschuldet zu haben. Aus Angst, als Mitwisser selbst liquidiert zu werden, zeigte einer der Beteiligten den Mord an. Höß wurde verhaftet und am 15. März 1924 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein späterer Förderer Martin Bormann erhielt für seine Rolle beim „Parchimer Fememord” ein Jahr Freiheitsstrafe. Bereits am 14. Juli 1948 kam Höß aufgrund einer allgemeinen Amnestie wieder frei.

In den folgenden Jahren betätigte sich Höß in Ahlen-Vorhelm in der Landwirtschaft und gehörte als Führungsperson verschiedenen auf die Landbevölkerung zugeschnittenen Nazibünden, wie zum Beispiel dem Bund der Artamanen, an. In der Zeit begegnete er zum ersten Mal Heinrich Himmler, der von Höß' Unterwürfigkeit und Gründlichkeit begeistert war.

Am 20. September 1933 trat Höß in die Allgemeine-SS ein. 1934 forderte Himmler ihn nach seiner Angabe auf, der Totenkopf-SS beizutreten. Ab diesem Jahr wurde er als Blockführer und ab April 1936 als Rapportführer im KZ Dachau eingesetzt. Im August 1938 wurde er Adjutant des Lagerkommandanten im Konzentrationslager Sachsenhausen und ab November 1939 dortiger Schutzhaftlagerführer im Rang eines SS-Hauptsturmführers. Im Mai 1940 erging seine Versetzung als Lagerkommandant ins Konzentrationslager Auschwitz.

Am 1. März 1941 wurde Höß von Himmler der Befehl zum Aufbau des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau gegeben. Im Sommer 1941 wurde er zu Himmler nach Berlin befohlen. Himmler erklärte ihm, dass der Führer die „Endlösung der Judenfrage“ befohlen habe und dass er diese Aufgabe auszuführen habe. Kurz darauf wurde Höß von Adolf Eichmann (Reichssicherheitshauptamt) in Auschwitz aufgesucht. Dieser nannte ungefähre Zahlen der Transporte und stellte klar, dass zur Vernichtung nur „Gas“ in Frage kommen würde, da die zu erwartenden Massen durch Erschießen nicht zu beseitigen wären. Im übrigen sei dies für die SS-Männer eine zu große Belastung wegen der Frauen und Kinder – so Eichmann.

Höß leitete die um den Jahreswechsel 1941/1942 beginnende Vernichtung der Juden in Auschwitz. Diese wurden in zwei provisorisch zu Gaskammern umgebauten Bauernhäusern umgebracht. Ende 1942 wurde mit dem Bau von vier großen Krematorien mit Gaskammern begonnen, die ab März 1943 für die Massenermordungen genutzt wurden. Im November 1943 teilte der Obergruppenführer Oswald Pohl (WVHA) die zentrale Kommandantur der Konzentrationslager Auschwitz auf. In diesem Zuge wurde Höß am 10. November 1943 mit der Wahrnehmung der Geschäfte der Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) betraut und dazu nach Berlin berufen. Am 1. Mai 1944 wurde er zum Chef des Amtes D I im WVHA ernannt. Von Mai bis Juli 1944 war Höß im Auftrag des WVHA als Standortältester erneut im KZ Birkenau, um für den reibungslosen Ablauf der Vernichtung der ungarischen Juden zu sorgen.

Im Mai 1945 tauchte er unter und gab sich unter dem Namen „Franz Lang” als Maat der Marine aus, bis er am 11. März 1946 von der britischen Militärpolizei auf einem Bauernhof in der Nähe von Flensburg festgenommen wurde.

Am 25. Mai 1946 wurde Höß an Polen ausgeliefert und unter Richter Jan Sehn vor Gericht gestellt. Während des Prozesses trug er durch seine Aussagen zur Klarstellung vieler historischer Fragen bei. Er verstand angeblich bis zum Schluss nicht, warum er zur Rechenschaft gezogen wurde, da er nur Befehle ausgeführt habe. Am 2. April 1947 wurde Höß in Warschau zum Tode verurteilt und 14 Tage später vor seiner ehemaligen Residenz in Auschwitz erhängt.

Quelle: Laurence Rees „ Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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