Der Tod der kleinen Yagmur in Hamburg und ein Buch der Rechtsmediziner Tsokos und Guddat sind Anlass, dieses traurige Thema wieder einmal in den Focus zu stellen, was meines Erachtens nicht oft genug geschehen kann. Letztlich bleibt Frau Lehmann in ihrer journalistischen Aufarbeitung aber leider in plakativen Appellen stecken.
Eine einzige wirklich greifbare Forderung wird angedeutet:
Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz.
Warum sperren sich die Verantwortlichen in Berlin seit Jahrzehnten dagegen? Sind es nur befürchtete Mehrkosten im Zusammenhang mit unbegleiteten minderjährigen Asylbewerben? Oder ist es die konservative Elternschaft, an deren durchs Grundgesetz geschütztem Elternrecht ja immer noch der Geruch preußischen Züchtigungsrechts haftet? Zu oft höre ich Sätze wie: „Eine Tracht Prügel hat mir auch nicht geschadet!“ Da hat sich noch viel in den Köpfen der Menschen zu entwickeln – und dieser Weg ist bei Menschen aus anderen Kulturkreisen oft noch um einiges weiter.
Was bleibt von den weiteren Appellen? Wo bleibt der Hinweis darauf, dass das Wohl der Kinder in unserem Land von Anbeginn an auf dem Altar des Föderalismus geopfert wurde. Die Eigenständigkeit der Bundesländer dokumentiert sich nur noch in der Kulturpolitik als originäre Bastion, was einerseits zu „Schulranking“ zwischen Bundesländern und andererseits zur Belastung für Kinder führt, die mit ihren Eltern über Ländergrenzen umziehen müssen. Die postulierte Gleichheit der Lebensbedingungen für Bundesbürger wird zur Farce – besonders für Kinder. Die letzte Föderalismusdebatte Anfang der 90er führte dann dazu, dass die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe der kommunalen Ebene übereignet wurden. Glück oder Pech eines deutschen Kindes, in welcher Kommune es geboren wurde, über welche Ressourcen diese Stadt oder dieser Kreis verfügt.
Deutschland ist in Bezug auf die Erhaltung und Ausstattung seiner wichtigsten Ressource, der nachwachsenden Generation, ein heilloser Flickenteppich. Das kann unsere Zukunft mehr bedrohen als alles andere. Der misslingende Schutz des Kindeswohls ist nur die Spitze des Eisbergs. Eine wirklich grundlegende Verbesserung erfordert ein solch „dickes Brett zu bohren“ und sich mit unzähligen „pfründeverteidigenden“ Organisationen anzulegen – das traut sich in Deutschland keiner.
Wo bleibt der Aufschrei, wenn das Land sich von Jahr zu Jahr eine klein wenig mehr aus der finanziellen Beteiligung an den Kosten der Kinder- und Jugendhilfe zurückzieht?
Welcher der Gemeindevertreter spricht beim Gezeter um die Erhöhung von Umlagepunkten vom Kindeswohl?
Es hat zum Glück in weiten Teilen der Bevölkerung ein Umdenken stattgefunden: die Privatsphäre ist nicht mehr so heilig, dass Kinder dort der Willkür ausgeliefert sind und drum herum sich alle umdrehen. Es ist auch keine Denunziation, wenn man den Verdacht von Kindeswohlgefährdung meldet. Denunziation würde moralisch integeres Verhalten an eine sanktionierende Ordnungsmacht melden. Eine Strafanzeige hätte da eher denunziatorischen Charakter. Daher ist auch eine Verbreiterung der Hilfsangebote der bessere Weg als eine Verschärfung gesetzlicher Regelungen.
Aber wie kann Hilfe für die betroffenen Familien aussehen? Hilfe muss als „Hilfe“ erkannt werden; das heißt, dass ihr Handeln zunächst eher von den Menschen als hilfreich erfahren - als professionellen Maßstäben gerecht werden muss. Hilfe, die als Kontrolle oder unproduktives Gerede erlebt wird, führt zu Ablehnung und Abwehrhaltung und erzeugt zusätzlichen Druck.
Der Druck in den Familien entsteht vor allem durch Armut und Überforderung; natürlich gibt es ein unerschöpfliches Bündel an Problemen, das aufgezählt werden könnte, aber aus meiner jahrzehntelangen Erfahrungen in dieser Arbeit kann ich sagen, dass es meist dann richtig kracht, wenn „am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist“. Wenn es kracht, sind die Kinder das schwächste Glied der Kette, das alles abbekommt. Vielleicht hat das „Alpha- Tier“ der vier-köpfigen Familie auch einen Termin beim Jobcenter verpennt und nun fehlen dank der „Sanktion“ ca. 3 % des knappen Monatsbudgets, wo doch weitere 5 % schon als Rate für die Stromnachzahlung einbehalten wurden. Da verzichtet Papa natürlich auf seine Kippen und sein Bierchen. Wer glaubt das denn? Natürlich kracht es.
Wo bleibt denn die Frage nach dem Kindeswohl, wenn es um die Harzt-4-Diskussion und das schöne Schlagwort vom „Fordern und Fördern“ geht? Die Bundesagentur für Arbeit stellt diese Frage mangels Zuständigkeit jedenfalls nicht.
Pit Clausen