Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 07.03.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 4)

Da die deutsche Verwaltung von den Franzosen verlangt hatte, nur erwachsene und arbeitsfähige Juden für die Deportation zu bestimmen, und die Kinder erst nachträglich dazugenommen worden waren,, um die Quote zu erfüllen, hatte man in Berlin noch keine formelle Entscheidung darüber getroffen, die Familien komplett zu deportieren. Doch obwohl die französischen Behörden wussten, dass diese Beschlüsse höchstwahrscheinlich in den kommenden Wochen gefasst würden, erklärten sie sich einverstanden, die Eltern von den Kindern zu trennen und zuerst die Erwachsenen zu deportieren.

Jean Leguay 1), der Vertreter der Vichy-Polizei, schrieb an den Präfekten von Orléans: „Die Kinder dürfen nicht in denselben Transporten mitfahren wie ihre Eltern. Während sie auf ihren Abtransport warten, um mit ihren Eltern wieder zusammenzukommen, wird man sie betreuen.“ Dass Leguay über die Absichten der Deutschen informiert war, die Kinder in Bälde ebenfalls zu deportieren, ging aus seiner Ankündigung hervor, „die Transporte mit den Kindern beginnen in der zweiten Augusthälfte“. Die französischen Behörden unternahmen somit keinen Versuch, das entsetzliche Leid zu verhindern, das den Eltern und Kindern bevorstand, indem sie den Deutschen vorschlugen, die Deportationen um einige Wochen zu verschieben, bis die Familien vereint das Land verlassen könnten.

Laval2) hatte früher erklärt, sein Vorschlag, die Kinder in die Deportationen einzubeziehen, sei einem ‚humanen‘ Wunsch entsprungen, keine Familien zu trennen. Diese Erklärung, in der sich von Anfang an dieselbe Heuchelei verriet wie bei der slowakischen Entscheidung, die Deutschen zu ersuchen, aus ‚christlichen‘ Gründen vollständige Familien zu deportieren, zeigt sich jetzt in ihrer ganzen Verlogenheit. Nichts hätte weniger ‚human‘ sein können als das Programm, das jetzt von Leguay skizziert wurde – dass Kinder in den Lagern Beaune-la-Rolande und Pithiviers ihren Eltern entrissen werden sollten.

Anfang August kursierten in Beaune-la-Rolande Gerüchte, dass die Erwachsenen möglicherweise woanders hingebracht würden. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Mutter mir Geld in die Schulterpolster meines kleinen Anzugs eingenäht hat“, sagt Michel Muller. „Es war mein kleiner Sonntagsanzug mit einer Weste und einer kurzen Hose. Ich glaube, sie sahen wie Golfshorts aus, und ich war sehr stolz darauf. Sie nähte das Geld ein und sagte mir, ich solle gut darauf aufpassen. Am nächsten Tag war es soweit.“ Die französische Polizei kam in das Lager und trieb alle zusammen. Nachdem sie angekündigt hatte, die Kinder müssten von den Eltern getrennt werden, brach ein Chaos aus. „Es gab zahlreiche Kinder, die sich an ihren Müttern festklammerten“, sagt Michel. „Es waren wirklich schwierige Augenblicke. Die Kinder hingen an ihren Müttern, brüllten und schrien, und die Gendarmen waren hilflos.“ Annette erklärt: „Die Polizei trieb die Frauen mit roher Gewalt zurück. Die Kinder klammerten sich an ihre Kleider. Die Gendarmen spritzten die Menschen klatschnass. Sie zerrissen die Kleider der Frauen. Und überall hörte man Schreien und Weinen. Es war ein furchtgarer Lärm und auf einmal wurde es ganz still. „Die Polizei hatte ein Maschinengewehr aufgestellt, und die Drohung war unmissverständlich. „Vorn standen die Frauen in einer Reihe“, sagt Annette. „Ich sehe es heute noch vor mir. Und wir Kinder hielten uns aneinander fest. Meine Mutter stand in der vordersten Reihe, und sie gab uns ein Zeichen mit den Augen, und wir beobachteten sie. Ich hatte den Eindruck, dass ihre Augen uns zulächelten, als wollte sie uns sagen, dass sie zurückkommen würde. Michel weinte, Und das ist das letzte Bild, das ich von meiner Mutter habe.“

Nachdem man die Eltern weggebracht hatte, verschlechterten sich die Bedingungen für die Kinder im Lager sehr schnell. Der Fürsorge ihrer Mütter beraubt, wurden sie schmutzig und ihre Kleider fleckig. Weil sie nur Wassersuppe und Bohnen zu essen bekamen, litten viele unter Durchfall. Aber am schlimmsten war der emotionale Verlust. „Besondern bedrückend wurde es abends“, erinnert sich Michel Muller. „Abends erzählte uns Mutter immer Geschichten, und nachdem sie nicht mehr da war, mussten wir es selber tun. Annette fügt hinzu: „Nach ihrem Abtransport wollte ich tagelang die Baracken nicht mehr verlassen, weil ich so traurig war. Ich musste immerzu weinen. Ich blieb auf dem Strohlager und redete mir ein, es sei meine Schuld, dass meine Mutter gegangen war, weil ich nicht nett zu ihr gewesen sei. Ich machte mir wegen allem und jedem Vorwürfe. Und Michel brachte mich dazu, aufzustehen und ins Freie zu gehen, denn ich hatte Durchfall, und er half mit beim Waschen und sorgte dafür, dass ich etwas aß. Und nach und nach streifte ich mit ihm durch das Lager, und wir rupften Gras aus, das wir zu essen versuchten“. Mit seinen sieben Jahren übernahm Michel die Rolle eines Beschützers seiner Schwester. Doch er stand vor enormen Schwierigkeiten. Annette war krank und konnte nicht nach Suppe anstehen, und der Versuch, Gras zu essen, führte natürlich zu nichts. Sein größtes Problem war jedoch, dass er jünger und kleiner war als die meisten anderen Jungen, die um die Mahlzeiten anstanden. „Ich kann mich noch genau an die Kämpfe erinnern, die ausbrachen, sobald die Suppe ausgeteilt wurde – Kämpfe mit den anderen Kindern. Da ich sehr kleinewar, konnte ich mich nicht bis zum Suppenkessel durchkämpfen. Manchmal kam ich zurück, und mein Blechnapf war leer. Ich hatte überhaupt nichts. Meine Schwester war die ganze Zeit krank, und so mussten wir in die leeren Töpfe sehen, aus denen die Suppe geschöpft wurde, und wie sahen nach, ob noch etwas übriggeblieben war. Wir redeten viel über das Essen. Wir malten uns Speisen aus, die wir essen würden, obwohl wir zu Hause keine starken Esser gewesen waren, doch in dem Augenblick war der Hunger in uns einfach übermächtig.“ Michel erkannte, dass er etwas unternehmen musste, wenn sie überleben wollten, da er und seine Schwester mit jedem Tag schwächer wurden, Als er schließlich eine Anschlagtafel vor dem Lagerspital gelesen hatte, beschloss er zu handeln: „Darauf stand, dass Kinder unter fünf Jahren in der Krankenbaracke essen könnten. Und da ich lesen und schreiben konnte, behauptete ich, ich sei fünf Jahre alt, und es klappte prima. So hatte ich zu essen, und meine Schwester bekam auch etwas ab“, weil es Michel gelang, Essen aus der Krankenbaracke hinauszuschmuggeln.

1) Leguay war von April 1942 bis Ende 1943 Präfekt und Delegierter des Generalsekretärs der Polizei der Vichy-Regierung in der besetzten Zone, als solcher war er der Stellvertreter René Bousquets (Generalsekretär der Polizei des Vichy-Regimes). Er war an der Organisation der Judenrazzien im besetzten Gebiet Frankreichs beteiligt und Verhandlungspartner der deutschen SS-Offiziere in Frankreich. Nach dem Krieg war Leguay Industrieller in den USA und später Präsident verschiedener chemischer und pharmazeutischer Unternehmen in Großbritannien und Frankreich. 1979 wurde Anklage gegen ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Da der Prozess zehn Jahre lang verzögert wurde, starb Leguay vor Prozessbeginn.

2) Pierre Etienne Laval (* 28. Juni 1883 inChâteldon; † 15. Oktober 1945 in Fresnes) war ein französischer Politiker und Ministerpräsident. Zusammen mit Philippe Pétain war er hauptverantwortlich für die Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Laval begann seine politische Karriere bei den Sozialisten, rückte aber zunehmend nach rechts. 1919 zog er erstmals in das französische Parlament ein. Ab 1925 besetzte er mehrere Ministerämter. In den Jahren 1931 und 1932 sowie 1935 und 1936 war er französischer Ministerpräsident. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs sorgte Laval im Parlament dafür, dass die Macht am 10. Juli 1940 an Pétain übertragen und damit die Dritte Republik beendet wurde. Am 16. Juli 1940 wurde Laval stellvertretender Ministerpräsident – vorerst gab es keinen Ministerpräsidenten – und später Außenminister des Vichy-Regimes. Am 13. Dezember desselben Jahres wurde er jedoch wieder von Pétain entlassen und verhaftet, weil Laval eine deutlich engere Zusammenarbeit mit Deutschland forderte als der Marschall. Auf Druck Adolf Hitlers wurde Laval am 18. April 1942 erneut als Ministerpräsident berufen, woraufhin die US-Regierung ihren Botschafter aus Vichy abberief. Im Juli 1942 sorgte er dafür, dass jüdische Kinder in die Vernichtungslager deportiert wurden. Laval blieb bis 1944 Ministerpräsident. Danach wurde er gewaltsam nach Sigmaringen gebracht, wo er mit Marschall Pétain gemeinsam das Schloss Sigmaringen bewohnte, eine Exilmarionettenregierung mit Kabinettssitzungen und eigener Wache führte, bis er im Mai 1945 nach Spanien floh. Er wurde in Barcelona verhaftet, auf Antrag von General Charles de Gaulle am 30. Juli 1945 an Frankreich ausgeliefert und dort wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Nachdem er bei einem erfolglosen Selbstmordversuch (mit Zyankali) im Gefängnis von Fresnes (bei Paris) versucht hatte, sich seiner Hinrichtung zu entziehen, wurde er medizinisch versorgt und dort am 15. Oktober erschossen.

Quelle: Laurence Rees „ Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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