Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 10.02.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 3)

Bei einer Zusammenkunft zwischen Dannecker 1) und dem französischen Ministerpräsidenten Pierre Laval am 4. Juli 1942 machte dieser (nach Aussage Danneckers) das Angebot, „dass während der Evakuierung jüdischen Familien aus der unbesetzten Zone Kinder unter 16 Jahren ebenfalls abtransportiert werden könnten. Was die jüdischen Kinder in der besetzten Zone angehe, so sei diese Frage für ihn ohne Interesse. Historiker haben über diesen Vorschlag Lavals geurteilt, er gereiche ihm zu „ewiger Schande“, und erklärt, dieser Augenblick müsse „für immer in die Geschichte Frankreichs eingeschrieben sein“.

Man kann dieser Meinung nur zustimmen, vor allem angesichts der entsetzlichen Leiden, denen diese Kinder entgegengingen, die ihnen zu einem großen Teil von Franzosen auf französischer Erde zugefügt wurden, weil einem französischer Politiker ihr Schicksal gleichgültig war.

Die Verhaftung ausländische Juden durch die französische Polizei begann in Paris in der Nacht des 16. Juli. An diesem Abend befanden sich Annette Muller, ihr jüngerer Bruder Michel, ihre beiden älteren Brüder und ihre Mutter in der Wohnung der Familie im 10. Arrondissement. Ihr Vater, der aus Polen stammte, hatte Gerüchte gehört, dass etwas in der Luft liege, und die Wohnung verlassen, um sich in der Nähe zu verstecken. Der Rest der Familie war geblieben. Auf den Gedanken, dass ganze Familien in Gefahr seien, wären sie nie gekommen. Annette, damals neun Jahre alt, hat eine deutliche Erinnerung an das, was an jenem Abend geschah. „Wir wurden lautstark geweckt durch Schläge an die Tür, und die Polizei kam herein. Meine Mutter bat sie, wieder zu gehen. Und der Polizeikommissar schob sie zurück und sagte: ‚Schnell, beeilen Sie sich, stehlen Sie nicht unserer Zeit!‘“

Annettes Mutter breitete in aller Eile ein Betttuch auf dem Boden aus und warf Kleidung und Dörrobst darauf. Minuten später waren sie im Treppenhaus und auf der Straße. Annette stellte fest, dass sie ihren Kamm vergessen hatte, und die Polizei erlaubte ihr, noch einmal nach oben zu gehen und ihn zu holen, wenn sie ‚sofort zurückkomme‘. Sie ging in die Wohnung zurück, in der immer noch die Polizisten waren: „Alles war vollkommen durchwühlt, und ich wollte auch noch meine Puppe mitnehmen, meine Puppe… und sie rissen mir die Puppe aus der Hand und warfen sie auf das ungemachte Bett. Und da verstand ich, dass die ganze Geschichte nicht gut ausgehen würde.“

Wieder draußen auf der Straße, in dem Durcheinander zwischen Polizisten und Juden, sagte ihre Mutter zu den beiden ältesten Jungen, die elf und zwölf Jahre alt waren, sie sollten weglaufen, und sie verschwanden in der Menge. (Beide überlebten den Krieg bei französischen Familien, die sie versteckten.) Dann trieb die Polizei die anderen in Autobusse und fuhren sie zu einem Sammelplatz, dem Vélodrôme d’Hiver, einer überdachen Winterradrennbahn im 15. Arrondissement. Alle Familien, die während dieser 36 Stunden dauernden Großrazzia verhaftet wurden, insgesamt 12884 Personen, darunter 4115 Kinder, wurden hierhergebracht. Der damals sieben Jahre alte Michel Muller erinnert sich an das, was nun kam, in einer ganzen Serie blitzartiger Erinnerungen: „Die Lampen waren Tag und Nacht an, und es gab große Dachfenster und es war sehr heiß. Die Bullen bekamen wir kaum noch zu sehen. Es gab eine oder zwei Wasserstellen und Toiletten – vielleicht zwei. Und was ich nie vergessen werde, sind die abscheulichen Gerüche. Nach zwei Tagen wurde der Gestank entsetzlich. Die Kinder spielten, denn es gab eine Menge Kinder, die ich kannte. Wir rutschten auf der Rennbahn – sie war aus Holz.“

Annette Muller wurde krank von dem Gestank und wurde auf den Platz im Innern der Rennbahn getragen, wo sie sich hinlegen konnte. „Ich sah einen Mann, der nicht weit von der Rue de l’Avenir wohnte und der gelähmt war. Und wenn wir in sein Haus kamen, hatte er immer eine Decke über den Beinen, und die Kinder dieses Mannes saßen um ihn herum und sprachen mit ihm voller Respekt. Ich erinnere mich daran, dass ich diesen Mann, der mich beeindruckt hatte, dort gesehen habe. Jetzt lag er auf der Erde, nackt – übrigens war es das erste Mal, dass ich einen Mann nackt gesehen hatte -, und er schrie. Seine Augen waren halb geöffnet, und sein Körper war weiß und nackt. Es war ein angsteinflößenden Bild.“

Nach fünf Tagen in der Rennbahn wurden die Familien mit dem Zug in verschiedene Lager auf dem Land gebracht, die Mullers kamen nach Beaune-la-Rolande. „Es ist ein hübsches Dorf“, sagt Michel Muller. „Es war sehr schön und heiß. Es gab ein große Allee, und wir gingen durch das halbe Dorf, und die Menschen sahen uns an – voller Neugier.“ Die Mullers waren unter den letzten, die in dem in aller Eile angelegten Lager ankamen, und es gab keine Betten für sie, auf denen sie hätten schlafen können, so dass sie sich mit einem Strohlager auf dem Boden begnügen mussten. Dennoch hatte Michel Muller keine Angst: „Am Anfang machte ich mit keine Sorgen. Ich war nicht besorgt, weil wir bei unserer Mutter waren, und das beruhigte mich. Und ich spielte mit meinen Freunden.“ Ihn beschäftigte nur eines: „Wir waren alle gute Schüler, und wir fragten uns - fahren wir früh genug wieder von hier weg, dass wir rechtzeitig wieder in der Schule sind?“

Trotz der schlimmen Zustände in diesem Lager war es für Annette und Michel der größte Trost, bei ihrer Mutter zu sein. „Zu Hause war sie so bekümmert“, sagte Annette, „dass wir nicht mehr wirklich mit ihr sprechen konnten. Im Lager wurde sie anfangs wieder sehr zugänglich. Sie spielte mit uns, wir hängten uns wie die Kletten an sie. Die anderen Frauen schauten uns zu und lachten, wenn sie sahen, wie sie mit uns herumbalgte.“ Doch eine Erinnerung an diese frühen Tage im Lager mit ihrer Mutter verfolgte Annette heute noch: „In der ersten Nacht, die wir in den Baracken verbrachten, muss es geregnet haben, und das Wasser tropfte auf sie herunter, und mein Bruder und ich überlegten miteinander, dass wir nicht neben ihr schlafen wollten, weil wir dann auch nass würden. Sie sagte etwas Ähnliches wie: „Eure Angst vor dem Wasser ist größer als euer Wunsch, neben eurer Mami zu schlafen.“ Und als wir getrennt dalagen, quälte mich das. Ich hatte die Möglichkeit nicht genutzt, in ihrer Nähre zu sein, wenn wir schliefen.“ Einige Tage später gelang es der Mutter, einen Gendarm zu bestechen (im Lager sahen sie nur französische Amtspersonen), einen Brief an ihren Mann aufzugeben, ein Schritt, der das Leben ihrer beiden jüngsten Kinder retten sollte.

Bereits nach wenigen Tagen im Lager wurden die Frauen aufgefordert, ihre Wertsachen abzugeben. Doch einige von ihnen zogen es vor, sich von ihren wertvollsten Besitztümern in einer Weise zu trennen, dass ihre Häscher nichts davon hatten. „In der Latrine war ein Graben!“ sagt Michel Muller, „ein Graben mit einer Art Holzdiele darüber, und jeder konnte uns sehen, wenn wir auf die Toilette gingen. Das schüchterte mich ein. Es war peinlich, auf die Toilette zu gehen, wenn alle uns sehen konnten. Und es gab einige, die tatsächlich ihren Schmuck in die Scheiße warfen.“ Später sah Michel einige Dorfbewohner, die man ins Lager geholt hatte, damit sie die Habseligkeiten der Frauen durchsuchte, wie sie mit Stöcken in der stinkenden Brühe herumstocherten. „Das hat mich wirklich verblüfft“, sage er.

1) Theodor Dannecker (* 27. März 1913 in Tübingen; † 10. Dezember 1945 in Bad Tölz) war ein deutscher SS-Hauptsturmführer und als Judenreferent (auch „Judenberater“) einer der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns. Zwischen Frühjahr und Sommer 1944 organisierte er im Eichmann-Kommando die Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns. Nach dem Krieg wurde er im Dezember 1945 von der US-Army interniert und beging wenige Tage später in der Haft Suizid.

Quelle: Laurence Rees „ Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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