Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 11.01.2014 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Todesfabriken (Teil 2)
Die deutschen Militärbehörden steckten in einem Dilemma. Wenn sie die von Hitler empfohlene Politik verfolgten, liefen sie Gefahr, die Kooperationsbereitschaft der französischen Bevölkerung zu verlieren – eine Vermutung, die sich anscheinend bestätigte, als es einen Aufschrei der Empörung gab, nachdem die Deutschen zur Vergeltung für Ermordung eines deutschen Offiziers in Nantes 98 Geiseln erschossen hatten.

Für General von Stülpnagel1) stand außer Frage, dass solche „polnische Methoden“ in Frankreich einfach nicht funktionieren. Doch er war politischer Realist genug, um zu begreifen, dass Hitler seine Meinung nicht einfach ändern und seinem Mann in Frankreich erlauben würde, in einer solchen Lage behutsam vorzugehen.

Der Führer war entschlossen. Nur „drakonische Vergeltung“ kam in Betracht. Somit versuchten die deutschen Militärbehörden in Frankreich in einem typischen Beispiel für die Art und Weise wie hohe Funktionsträger im NS-Staat die Lösung von Problemen angingen, Hitlers dogmatische Auffassung zu umgehen, indem sie andere Formen einer „drakonischen Vergeltung“ entwickelten, mit denen sie ihr Verhältnis zu den französischen Behörden weit weniger beschädigen würden. Zwei solche Alternativen wurden sogleich vorgeschlagen: Geldbußen für bestimmte Teile der Bevölkerung und Deportationen. Und da die angebliche „Verbindung“ zwischen Kommunisten und Juden für jeden Nationalsozialisten ein Glaubensartikel war, lag für die militärische Führung in Paris nichts näher als der Gedanke, zu Vergeltung für die Ermordung von Deutsch Juden und Kommunisten mit Geldbußen zu belegen und zu deportieren. Die Erschießungen von Geiseln nach Attentaten würden weitergehen, aber in geringerem Umfang und nur als ein kleiner Bestandteil der generellen Politik einer „drakonischen Vergeltung“.

Trotz dieser partiellen Lösung seines Problems war Stülpnagel noch immer der Meinung, er müsse einen erneuten Protest bei seinen Vorgesetzten einlegen, und schrieb im Januar 1942 „Massenerschießungen kann ich nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, noch vor der Geschichte verantworten“. Es war nur konsequent, dass Stülpnagel bald darauf seinen Posten verließ, doch das von ihm eingeführte Prinzip blieb erhalten. Juden und Kommunisten wurden im Rahmen einer Reihe von Repressalien gegen jegliche französische Widerstandshandlungen „zur Zwangsarbeit in den Osten“ deportiert. Der erste dieser Transporte verließ Frankreich im März 1942 mit dem Ziel Auschwitz. Deutsche Wehrmachtsoffiziere, geleitet von dem Wunsch, sich für die Geiselerschießungen nicht eine Tages „vor den Schranken der Geschichte“ verantworten zu müssen, hatten diese Menschen gleichwohl der denkbar höchsten Gefahr ausgesetzt. Sie kamen durch Unterernährung, Misshandlungen und Krankheiten um. Von den 1112 Menschen, die in Compiègne den Zug bestiegen, waren fünf Monate später 1008 nicht mehr am Leben. Man nimmt an, dass lediglich 20 von ihnen den Krieg überlebt haben. Demnach starben mehr als 98 Prozent dieses ersten Transports in Auschwitz.

Zu diesem Zeitpunkt fügte sich die Deportation von Juden aus Frankreich zugleich nahtlos in eine weitere, wesentlich umfassendere Vision des Nationalsozialismus ein – die „Endlösung der Judenfrage“. Am 6. Mai besuchte Heydrich persönlich Paris und enthüllte in kleinem Kreis: „Wie über die russischen Juden in Kiew, ist auch über die Gesamtheit der europäischen Juden das Todesurteil gesprochen. Auch über die französischen Juden, deren Deportation in diesen Wochen beginnt.“ Die Verantwortung für die praktische Durchführung dieses Programms in Frankreich fiel Theodor Dannecker2) zu, dessen Vorgesetzter Adolf Eichmann unmittelbar Reinhard Heydrich unterstellt war.

Bei ihrem Bemühen, ein „judenfreies“ Frankreich zu schaffen, stießen die deutschen Machthaber auf ein massives Hindernis – die französischen Behörden. Es gab einfach kein ausreichendes deutsches Personal in Frankreich, um die dort lebenden Juden zu registrieren, zusammenzutreiben und zu deportieren; dazu benötigte man die aktive Beteiligung der französischen Verwaltung und Polizei, zumal die Besatzer anfangs verlangten, aus Frankreich müssten mehr Juden deportiert werden als aus jedem andren Land in Westeuropa. Bei einer Besprechung in Berlin am 11. Juni 1942 unter dem Vorsitz Adolf Eichmanns wurde ein Deportationsplan bekanntgegeben, dem zufolge 10.000 belgische, 15.000 holländische und 100.000 französische Juden nach Auschwitz deportierte werden sollten. Sie mussten zwischen 16 und 40 Jahr alt sein, und der Anteil der „Arbeitsunfähigen“ durfte höchstens zehn Prozent betragen. Welche Überlegungen hinter diesen Zahlen und Einschränkungen standen, ist bis heute unklar, doch ist zu vermuten, dass der vorläufige Ausschluss von Kindern und alten Menschen mit der zu diesem Zeitpunkt noch beschränkten Vernichtungskapazität des Lagers Auschwitz zusammenhing. Der stets pflichteifrige Theodor Dannecker sagte zu, alle französischen Juden zu deportieren, die in die vorgegebene Kategorie fielen. Kurz nach dieser Zusammenkunft erstellte Dannecker einen Plan, innerhalb von drei Monaten 40.000 Juden aus Frankreich in den Osten zu schicken.

Es war eine Sache, ein solch ehrgeiziges Versprechen abzugeben, aber eine ganz andere, die Voraussetzungen dafür in einem Land zu schaffen, das sich noch immer weitgehend selbst verwaltete. Bei einer Unterredung am 2. Juli zwischen dem Polizeichef der Vichy-Regierung, René Bousquet, und Vertretern der Besatzungsmacht bekamen die Deutschen den Unterschied zwischen Theorie und Praxis unmittelbar zu spüren. Bousquet trug die Position seiner Regierung vor – in der besetzten Zone könnten nur ausländische Juden deportiert werden, und in der nichtbesetzten Zone werde die Polizei sich an keinen Massenverhaftungen beteiligen. Wörtlich erklärte er: „Auf französischer Seite haben wir nichts gegen die Verhaftungen als solche. Lediglich ihre Durchführung durch die französische Polizei würde uns in Verlegenheit bringen. Dies war der persönliche Wunsch des Marschalls Pétain.“ Helmut Knochen, der Leiter der Dienststelle Paris der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, dem klar war, dass sich die Deportationen ohne die Mitarbeit der Franzosen unmöglich bewerkstelligen ließen, protestierte sogleich und erinnerte Bousquet daran, dass Hitler für die Haltung der Franzosen in einer für ihn so wichtigen Frage kein Verständnis aufbringen werde. Nach dieser versteckten Drohung lenkte Bousquet ein. Die französische Polizei werde die Verhaftungen in beiden Zonen vornehmen, aber nur bei Juden, die keine französische Staatsbürgerschaft hätten. Die französischen Behörden hatten eine klare politische Entscheidung getroffen – sie würden kooperieren, indem sie den Deutschen die ausländischen Juden auslieferten, um so ihre eigenen jüdischen Bürger zu schützen.

1) Otto Edwin von Stülpnagel (* 16. Juni 1878 in Berlin; † 6. Februar 1948 in Paris) war ein deutscher Offizier, zuletzt General der Infanterie der Wehrmacht. Von Oktober 1940 bis Februar 1942 war er „Militärbefehlshaber Frankreich“ (MBF), dem die meisten Gebiete des besetzten Teils Frankreichs unterstanden. Er wurde im August 1942 endgültig aus dem Dienst verabschiedet, nach Kriegsende von den Besatzungsbehörden verhaftet und 1946 an Frankreich ausgeliefert. Anfang Februar 1948 beging er im Pariser Gefängnis Cherche-Midi noch vor Beginn seines Prozesses Suizid.

2) Theodor Dannecker (* 27. März 1913 in Tübingen; † 10. Dezember 1945 in Bad Tölz) war ein deutscher SS-Hauptsturmführer und als Judenreferent (auch „Judenberater“) einer der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns. Zwischen Frühjahr und Sommer 1944 organisierte er im Eichmann-Kommando die Deportation der jüdischen Bevölkerung Ungarns. Nach dem Krieg wurde er im Dezember 1945 von der US-Army interniert und beging wenige Tage später in der Haft Suizid.

3) Helmut Knochen (* 14. März 1910 in Magdeburg; † 4. April 2003 in Offenbach am Main) war ein deutscher Anglist und SS-Führer, der bis zum SS-Standartenführer aufstieg. Knochen war in Paris der Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) für das besetzte Frankreich. Im Juni 1946 wurde er durch ein britisches Militärgericht in Wuppertal wegen Mordes an gefangenen britischen Piloten in den Vogesen im Rahmen der Fliegerprozesse zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt, stattdessen erfolgte am 1. Juli 1947 die Auslieferung an Frankreich. Dort wurde er am 10. Oktober 1954 durch ein französisches Militärtribunal in Paris ebenfalls zum Tode verurteilt. 1958 wurde das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt, im Dezember 1962 erfolgte die Freilassung aus französischer Haft. Besonders der Präsident der pfälzischen Landeskirche Hans Stempel hatte sich für die inhaftierten Kriegsverbrecher eingesetzt, die in der deutschen Öffentlichkeit als „Kriegsgefangene“ bezeichnet wurden. Gegen Knochen wurde in der Folge kein Prozess mehr durchgeführt. Zurück in Deutschland wohnte Knochen zunächst in Baden-Baden, später in Hahnenklee bei Clausthal-Zellerfeld. Ab 1963 lebte er in Offenbach am Main. Helmut Knochen war als Versicherungsvertreter tätig und heiratete 1982 ein zweites Mal. Knochen wurde Mitglied der Stillen Hilfe, einer Organisation, die sich hauptsächlich für inhaftierte NS-Täter einsetzte. Wegen Meineids wurde er 1968 angeklagt, weil er vor dem Landgericht Offenburg als Zeuge ausgesagt hatte, dass er von dem Judenmord nichts gewusst habe. Knochen ging danach anders vor und schob Amnesie vor, da er das „schmerzhafte Geschehen verdrängt hätte“. Im Prozess gegen Modest Graf von Korff, KdS vonChalons-sur-Marne, wurde er 1987 schließlich zu einem „unerreichbaren Beweismittel“, als er zwar vier Stunden täglich Golf spielen, aber aus gesundheitlichen Gründen als Zeuge nicht vorgeladen werden konnte. Auch hier ging es um die Frage, ob die Kommandeure der Sicherheitspolizei gewusst hatten, dass die Deportierten in Auschwitz-Birkenau vergast wurden.

Quelle: Laurence Rees „ Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“

 
 

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