Reimut Schmitt (Berlin) Lokale Lösungen
Im Herbst 1941 unterbreitete Rolf-Heinz Höppner 1), Leiter der Umwandererzentrale in Posen und zuständig für die Deportation von Juden und Polen ins Generalgouvernement 2) und für die Ansiedlung von Volksdeutschen im Wartheland 3), einen konkreten Vorschlag: „ Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.“
Höppner brachte die Ermordung ihm nutzlos erscheinende Menschen nicht zum ersten Mal ins Gespräch. Schon im Oktober 1940, als er nicht wusste, wohin er diejenigen Polen schicken sollte, die aus gesundheitlichen Gründen nicht deportierte werden durften, hatte er auf den Rand eines Beschwerdebriefes geschrieben: „Unter Umständen müssen gegen transportunfähige Personen andere Maßnahmen ergriffen werden.“ Als „Sachbearbeiter für Umwanderungsangelegenheiten“ verfügte er über praktische Erfahrungen. Seit dem Winter 1939/1940 hatte er zumindest indirekt an der Ermordung einiger tausend psychische Kranker im Wartheland mitgewirkt. Zu dem Zeitpunkt, als er seinen Brief schrieb, durchkämmte das Sonderkommando Lange, das ebenso wie Höppner zum Posener Apparat der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst) gehörte, zum zweiten Mal die Anstalten des Wartheland, um „nutzlose Esser“ mit Hilfe von Gaswagen zu töten. Dennoch dachte Höppner am 16. Juli nicht an die Vernichtung aller Juden. Das ergibt sich aus seinem Vermerkt eindeutig. Er schlug vor, die arbeitsfähigen in einem Lager zu konzentrieren. Dort sollten „sämtliche Jüdinnen, von denen noch Kinder zu erwarten sind“, sterilisiert werden, „damit in dieser Generation das Judenproblem restlos gelöst werden kann“.
So sehr hier Höppner „von unten“ argumentierte, sollte doch nicht übersehen werden, dass sich parallel dazu auf der oberen Ebene der Hierarchie entsprechende Willensbildungsprozesse vollzogen. Dafür stehen die nur fragmentarisch dokumentierten Beziehungen zwischen den Organisatoren der Judendeportation einerseits und denen der „Euthanasie“ andererseits. Schon seit dem Herbst 1939 hatten die Akteure der „T4“ (siehe Beitrag Mai 2013) mit Chemikern des Kriminaltechnischen Instituts, also mit Angehörigen des RSHA (Reichssicherheitshauptamt), zusammengearbeitet, um geeignete Techniken zur Ermordung der Geisteskranken zu entwickeln. Während der Diskussion des Madagaskarprojekts 4) hatten sie die logistischen Dienste ihrer „eingespielten Transportorganisation“ angeboten und gleichzeitig fast alle transportunfähigen jüdischen Patienten in deutschen Anstalten in den Gaskammern der „T4“ ermordet. Das konnte nicht ohne Rücksprache mit Himmler und Heydrich geschehen. Im Herbst 1940 hatten die Männer der „T4“ den RKF- und Vomi-Kollegen (RKF: Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums; Vomi: Volksdeutsche Mittelstelle) aus der Verlegenheit geholfen und für sie Dutzende von Anstalten „freigemacht“, damit diese in Auffanglager für Volksdeutsche umgewandelt werden konnten.
Im Januar 1941 bat Himmler den „Euthanasie“-Beauftragten Bouhler 5), ihn dabei zu unterstützen, die Konzentrationslager von „Ballastexistenzen zu befreien“. Das führte zur sogenannten „Aktion 14f13“ (Aktenzeichen des Inspekteurs der konzentrationslage) : Von Anfang April an reisten „T4“-Ärzte durch die KZs, ließen sich dort jene Häftlinge, die der örtliche KZ-Kommandant als „Antisoziale“ oder Kranke eingestuft hatte, vorstellen und selektierten einen Teil derselben zum Transport in die Gaskammern der „T4“. Bis zum Sommer 1941 starben auf diese Weise etwa 2500 Häftlinge aus den Lagern Mauthausen, Buchenwald, Auschwitz und Sachsenhausen.
1) Höppner wurde im Juli 1945 in der Nähe von Flensburg festgenommen. Er trat als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf, um die Verantwortlichkeit des Reichssicherheitshauptamtes für die Mordtaten derEinsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Abrede zu stellen. Höppner wurde 1947 nach Polen ausgeliefert und angeblich am 15. März 1949 zum Tode verurteilt. Nach anderen Angaben wurde Höppner in Posen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Zuge der polnischen großen Amnestie nach dem Oktober 1956 kam Höppner danach Anfang 1957 frei, arbeitete als Oberregierungsrat im Wohnungsbauministerium und lebte später unbehelligt in einem Kölner Altersheim.
2) Der Begriff Generalgouvernement bezeichnet Gebiete der früheren Zweiten Polnischen Republik, die 1939–1945 vom Deutschen Reich militärisch besetzt und nicht unmittelbar in dasReichsgebiet eingegliedert worden waren, sowie die dort errichteten Verwaltungsstrukturen unter dem Generalgouverneur und NSDAP-Funktionär Hans Frank und seines Stellvertreters Arthur Seyß-Inquart mit Sitz in Krakau. Es umfasste zunächst eine Fläche von 95.000 km² und wurde am 1. August 1941 um den zuvor sowjetischen Distrikt Galizien auf 142.000 km² erweitert.
3) Der Reichsgau Wartheland bestand im Verband des Deutschen Reiches von 1939 bis 1945. Dem lag eine völkerrechtswidrige Annexion polnischen Territoriums durch die Reichsregierung zu Grunde. Die Benennung nahm Bezug auf die das Gebiet südwestlich durchfließende Warthe. Flächenmäßig umfasste der Reichsgau Wartheland im Wesentlichen die Landschaft Großpolen.
4) Im Mai 1940, als sich der Sieg im Westfeldzug abzeichnete, erwogen das Auswärtige Amt und das Reichssicherheitshauptamt den Madagaskarplan: Er sah vor, die Insel Madagaskar vom besiegten Frankreich zu übernehmen und bis zu 5,8 Millionen europäische Juden dorthin abzuschieben. Himmler hoffte, den „Begriff der Juden“ durch diese „Auswanderung“ „völlig auslöschen zu sehen“
5) Philipp Bouhler (* 11. September 1899 in München; † 19. Mai 1945 bei Dachau) war ein nationalsozialistischer Politiker. Er war ein Reichsleiter der NSDAP, Chef der Kanzlei des Führers, Publizist, SS-Obergruppenführer und Beauftragter Hitlers für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten.1943 erhielt er von Hitler eine Dotation in Höhe von 100.000 Reichsmark. Bouhler hielt sich im Januar 1945 in Dänemark auf, um dort in den deutschen Besatzungstruppen nach frontverwendungsfähigen Soldaten zu suchen. Bei Kriegsende schloss Bouhler sich dem Kreis um Hermann Göring an. Im Gefolge Görings verließ er im April 1945 Berlin. Am 23. April 1945 wurde er bei Berchtesgaden auf Befehl Hitlers von der SS verhaftet und aus allen Ämtern ausgeschlossen, nach Hitlers Suizid am 1. Mai 1945 jedoch wieder freigelassen. Amerikanische Truppen setzten Bouhler mit dem gesamten Göring-Gefolge am 9. Mai 1945 auf Schloss Fischhorn bei Zell am See fest. Am 19. Mai 1945 wurde Philipp Bouhler verhaftet. Auf der Fahrt in das Internierungslager Dachau beging Bouhler kurz vor der Ankunft mit Hilfe einer Blausäure-Kapsel Suizid.
Quelle: Götz Aly „Endlösung“ Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden