Gegen das Vergessen; nie wieder!

Veröffentlicht am 10.07.2013 in Allgemein

Reimut Schmitt (Berlin)

Lokale Lösungen (Teil 2)

Zur selben Zeit, im Januar 1941, hatte Himmler den Philipp Bouhler1) unmittelbar unterstellten „Oberdienstleiter“ Brack2) gebeten, untersuchen zu lassen, ob die Massensterilisierung der Juden technisch durchführbar sei. Brack berichtete am 28. März 1941 von einer Methode auf der Basis von Röntgenstrahlung und forderte Himmler auf, zu entscheiden, "ob und was weiterhin in der Angelegenheit theoretisch oder praktisch geschehen soll". Der antwortete erst sechs Wochen später und ließ Brack wissen, er habe seinen Bericht mit Interesse gelesen und werde bei nächster Belegenheit mit ihm darüber sprechen.

Schon am 27. Mai schlug ein anderer, der Gynäkologe Carl Clauberg3), Himmler ein konkurrierendes Projekt vor. Auch ihm ging es um die Entwicklung einer Methode zur operationslosen Massensterilisierung „von fortpflanzungsunwürdigen oder fortpflanzungsunerwünschten“ Menschen. Himmlers gesundheitspolitischer Berater, Ernst Grawitz, schwärmte von der „unerhörten Bedeutung, die ein solches Verfahren im Sinne einer negativen Bevölkerungspolitik haben würde“.

Für die Entscheidungsgeschichte zum Mord an den europäischen Juden bleibt festzuhalten: Himmler, Brack und Clauberg erwogen im Frühjahr 1941 ein Vorhaben, das sich mit den damaligen Absichten zur biologischen Ausrottung der europäischen Juden in Beziehung setzen lässt. Erst nach der Wannseekonferenz gab Himmler für beide Sterilisierungsprojekte, bei denen mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen gearbeitet wurde, grünes Licht. Die Opfer sollten dann nicht mehr Juden sein, allenfalls deutsch-jüdische „Mischlinge“, insbesondere aber „die Ostvölker“. Sowohl Carl Clauberg als auch der „T4“-Arzt Horst Schumann arbeiteten daran: In offener, vermutlich von Himmler gewollter Konkurrenz, am selben Ort – in Auschwitz.

Wenn nun der Chef der Umwandererzentralstelle Posen, Höppner 4), am 16. Juli die Sterilisierung aller arbeitsfähigen Jüdinnen des Warthegaues 5) ins Gespräch brachte, dann griff er Überlegungen auf, die seit mindestens einem halben Jahr in verschiedenen Institutionen diskutiert wurden. Es liegt nahe, dass es eine solche Parallelität – zeitlich verschoben – auch hinsichtlich der Pläne zur Massenvernichtung gab. Ein Beleg dafür ist die Tatsache, dass es etwa 100 Angehörige der „Aktion T4“ waren, die später die Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka aufbauten und betrieben. Wann die ersten Vorübelegungen dafür stattfanden, ist schwer zu sagen. Sicher waren sie im Oktober 1941 im Gang, eventuell schon früher.

In der Parteiakte des „T4“-Arztes Curt Schmalenbach findet sich unter dem Datum vom 21. Juni 1941 eine Eintragung, die möglicherweise im Zusammenhang mit jenen Optionen zu verstehen ist, die weit über den bis dahin gegebenen Aktionsradius der „T4“ hinausreichen sollten: „Er wurde“, heißt es dort über Schmalenbach, „erst vor kurzem zum Regierungsrat ernannt und ist mit Geheimaufträgen stets auf Fahrt (so nach Paris, Warschau, Prag, Wien usw.). Er besitzt außerdem einen Ausweis von der Geheimkanzlei des Führers, wonach er berechtigt ist, jede Auskunft über seine Tätigkeit und den Zweck seiner Reise zu verweigern.“

Die Reiseziele Schmalenbachs deuten darauf hin, dass die „Judenfrage“ Gegenstand des Geheimauftrags gewesen sein könnte. Ebenso die kategorische Geheimhaltung des Reisezweckes. Darüber hinaus ist die Funktion Schmalenbachs interessant: Er hatte zunächst den Betrieb der „T4“-Gaskammer in Pirna geleitet und stieg dann zum „ärztlichen Adjutanten“ von Viktor Brack auf – zuständig für „Sonderaufgaben“.

1) Philipp Bouhler (*11. September 1899 in München; †19. Mai 1945 bei Dachau) war ein nationalsozialistischer Politiker. Er war ein Reichsleiter der NSDAP, Chef der Kanzlei des Führers, Publizist, SS-Obergruppenführer und Beauftragter Hitlers für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten.1943 erhielt er von Hitler eine Dotation in Höhe von 100.000 Reichsmark. Bouhler hielt sich im Januar 1945 in Dänemark auf, um dort in den deutschen Besatzungstruppen nach frontverwendungsfähigen Soldaten zu suchen. Bei Kriegsende schloss Bouhler sich dem Kreis um Hermann Göring an. Im Gefolge Görings verließ er im April 1945 Berlin. Am 23. April 1945 wurde er bei Berchtesgaden auf Befehl Hitlers von der SS verhaftet und aus allen Ämtern ausgeschlossen, nach Hitlers Suizid am 1. Mai 1945 jedoch wieder freigelassen. Amerikanische Truppen setzten Bouhler mit dem gesamten Göring-Gefolge am 9. Mai 1945 auf Schloss Fischhorn bei Zell am See fest. Am 19. Mai 1945 wurde Philipp Bouhler verhaftet. Auf der Fahrt in das Internierungslager Dachau beging Bouhler kurz vor der Ankunft mit Hilfe einer Blausäure-Kapsel Suizid.

2) Viktor Hermann Brack (* 9. November 1904 in Haaren; † 2. Juni 1948) war Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des Führers (KdF) und SS-Oberführer. Als einer der maßgeblichen Organisatoren der NS-Euthanasie, der sogenannten „Aktion T4“ und von medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern wurde er im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nach Kriegsende wurde Brack von den Amerikanern aufgespürt im Lager Moosburg interniert. Als einer von drei Nicht-Ärzten wurde Viktor Brack nach Kriegsende im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt. Für die Auswahl Bracks als Angeklagter dürfte seine Beteiligung an der „Aktion T4“ ausschlaggebend gewesen sein: Nach dem Suizid Philipp Bouhlers galt er zusammen mit Karl Brandt als der ranghöchste Verantwortliche für die NS-Euthanasie. In Vernehmungen im Vorfeld des Ärzteprozesses versuchte Brack, seine Vorschläge zur Röntgenkastration zu leugnen. Als ihn der amerikanische Vernehmungsoffizier mit Dokumenten konfrontierte, brach er weinend zusammen. Im Ärzteprozess, der vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. Juli 1947 dauerte, wurden am 20. August 1947 die Urteile verkündet. Für Brack lautete der Urteilsspruch „Tod durch den Strang“. Das Urteil wurde am 2. Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg vollstreckt.

3) Carl Clauberg (* 28. September 1898 † 9. August 1957 in Kiel) war ein deutscher Gynäkologe, der als SS-Arzt an hunderten weiblichen KZ-Häftlingen Zwangssterilisationen vornahm. Am 8. Juni 1945 wurde Clauberg in Eckernförde (Schleswig-Holstein) festgenommen. Er wurde im Juli 1948 in der Sowjetunion zu 25 Jahren Haft verurteilt. Am 11. Oktober 1955 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft im Rahmen der „Heimkehr der Zehntausend“ als „Nichtamnestierter“ entlassen. Zunächst war er wieder als Gynäkologe an seiner alten Klinik tätig. Er wurde dort als „Spätheimkehrer“ und Märtyrer gefeiert. Der Zentralrat der Juden in Deutschland erstattete dann Strafanzeige wegen „fortgesetzter schwerer Körperverletzung“. Am 22. November 1955 wurde er in Kiel verhaftet, nachdem er zuvor schon in die psychiatrische Klinik von Neustadt in Holstein eingewiesen worden war. Anfang Februar 1956 stellten die Gutachter seine Zurechnungsfähigkeit fest. Ralph Giordano schrieb über die Anklageschrift: „Obwohl ich vielen NS-Prozessen vor bundesdeutschen Schwurgerichten beigewohnt habe, gehört die Anklageschrift gegen Clauberg zur unerträglichsten Lektüre, der ich mich je beim Studium von Naziverbrechen unterzogen habe.“ Aufgrund der gegen ihn erhobenen Vorwürfe wurde Clauberg 1956 die Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie versagt und ihm im März 1957 Berufsverbot erteilt. Bevor es zur von der Verteidigung hintertriebenen Eröffnung des Prozesses kam, bei dem die von ehemaligen nationalsozialistischen Juristen besetzte Kieler Justiz auch den Nebenkläger Henry Ormond abgewiesen hatte, starb Clauberg allerdings im August 1957 an einem Schlaganfall. Eine Obduktion, die das gerichtsmedizinische Institut Kiel durchführte, weil Zweifel an seinem natürlichen Tod geäußert wurden, ergab „beginnende Gehirnerweichung“ (Enzephalomalazie).

4) Höppner wurde im Juli 1945 in der Nähe von Flensburg festgenommen. Er trat als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf, um die Verantwortlichkeit des Reichssicherheitshauptamtes für die Mordtaten derEinsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Abrede zu stellen. Höppner wurde 1947 nach Polen ausgeliefert und angeblich am 15. März 1949 zum Tode verurteilt. Nach anderen Angaben wurde Höppner in Posen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Zuge der polnischen großen Amnestie nach dem Oktober 1956 kam Höppner danach Anfang 1957 frei, arbeitete als Oberregierungsrat im Wohnungsbauministerium und lebte später unbehelligt in einem Kölner Altersheim.

5) Der Reichsgau Wartheland / Warthegau bestand im Verband des Deutschen Reiches von 1939 bis 1945. Dem lag eine völkerrechtswidrige Annexion polnischen Territoriums durch die Reichsregierung zu Grunde. Die Benennung nahm Bezug auf die das Gebiet südwestlich durchfließende Warthe. Flächenmäßig umfasste der Reichsgau Wartheland im Wesentlichen die Landschaft Großpolen.

6) Curt Schmalenbach (* 24. Februar 1910 in Elberfeld; † 15. Juni 1944 ) war im nationalsozialistischen Deutschen Reich im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms als Arzt bei der Krankenselektion, als stellvertretender Leiter in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein in Pirna und als Leiter der NS-Tötungsanstalt Hadamar tätig. Er kam im Jahr 1944 bei einem Flugzeugabsturz über dem Comer-See ums Leben.

Quelle: Götz Aly „Endlösung“ Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden

 
 

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