Reimut Schmitt (Berlin) Lokale Lösungen (Teil 3)
Da Himmler das Projekt zur Zwangssterilisierung nicht ernsthaft betrieb, ist es durchaus möglich, dass die „Euthanasie“-Beauftragten in der Kanzlei des Führers schon vor dem Krieg gegen die Sowjetunion den aktiven Massenmord an Juden planten. Allerdings lassen die Dokumente die begründete Vermutung zu, dass Bouhler1), Brack2) und Schmalenbach3) zu diesem Zeitpunkt – ähnlich wie Höppner4) – nicht die Vernichtung aller, sondern eher der arbeitsunfähigen Juden im Auge hatten.
Dem entspricht die spätere Notiz des Judenreferenten im Ostministerium Erhard Wetzel5), der Ende Oktober 1941 feststellte: „Nach Sachlage bestehen keine Bedenken, wenn diejenigen Juden, die nicht arbeitsfähig sind, mit den Brackschen Hilfsmitteln beseitigt werden. „Brack habe sich bereit erklärt, „bei der Herstellung der Vergasungsapparate mitzuwirken.“
Gemäß seinem Aufgabengebiet bezog sich Erhard Wetzel auf die Ausrottung der sowjetischen Juden. Dabei hatte zunächst gerade nicht die Frage der Arbeitsfähigkeit im Mittelpunkt gestanden. Unter dem Paradigma des Rassenkrieges, aus dem die rücksichtslose Vernichtung des „jüdisch-bolschewistischen Feindes“ folgte, lag den Kommandos der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, vielfach unterstützt von Einheiten der Wehrmacht, zunächst daran, wehrfähige jüdische Männer zu erschießen. Übrig blieben jedoch in aller Regel Frauen, Kinder und Alte – aus der Perspektive der Deutschen also „Arbeitsunfähige“. Über deren „Beseitigung durch irgendein schnell wirkendes Mittel“ wurde im Reichsgau Wartheland2) – unter den Gesichtspunkten der Ernährungslage und der Ökonomisierung der Ghettos – schon länger gesprochen. Vom 15. August an ermordeten die Kommandos der Einsatzgruppen in der Sowjetunion auch diejenigen, die sie bis dahin verschont hatten. Jetzt erschossen sie sogar bevorzugt die „Unproduktiven“. Das war, darüber herrscht inzwischen Übereinkunft, unmittelbare Folge von Himmlers Besuch an der Ostfront am 15. Und 16. August.
In jedem Fall dürften auch hier die unerwarteten Stockungen, in die der Feldzug geraten war, für die Entscheidung von Bedeutung gewesen sein: Die Einsatzgruppen registrierten nun in ihren sogenannten Ereignismeldungen erstmals die „Liquidierung“ von „Juden, Jüdinnen und Judenkindern“, die „Vernichtung von Juden beiderlei Geschlechts und aller Altersklassen“. Hatten die Mordkommandos in den ersten acht Wochen des Krieges etwa 50.000 sowjetische Juden erschossen, so ermordeten sie in den folgenden vier Monaten 500.000.
So unzweifelhaft der Befehl Himmlers ist, so wenig sollte er als isolierter, autoritativer Akt interpretiert werden. Offenbar gelangten verschiedene Praktiker des Mordens an unterschiedlichen Orten fast gleichzeitig zu denselben Schlüssen. Denn bereits am 8. August erfuhr ein Offizier des Wirtschaftsrüstungsamtes bei einer Inspektionsreise ins Baltikum: „ In Libau sind schon mehrere tausend Juden liquidiert worden. Jüdische Frauen wurden bisher nicht erschossen. Man sprach davon, dass sie später durch Vergasung beseitige werden sollen.“ Offenbar hatte Himmler die Ausweitung des Völkermordes am 15. August nicht einfach befohlen, sondern sie war von den Offizieren und Mannschaften der Mordkommandos schon vorher diskutiert und gefordert, partiell wohl auch schon praktiziert worden.
Die rasche Radikalisierung der anti-jüdischen Politik in den besetzten Teilen der Sowjetunion ist rückblickend bereits Teil des Holocaust. Aus der Perspektive der Handelnden betrachtet, gehörte sie zu den praktischen Erfahrungsgrundlagen, die in jene Entscheidungsprozesse eingingen, die, nachdem auch das letzte große Deportationsprojekt scheitere, binnen weniger Wochen zum Aufbau großer Vernichtungslager führten.
1) Philipp Bouhler (*11. September 1899 in München; †19. Mai 1945 bei Dachau) war ein nationalsozialistischer Politiker. Er war ein Reichsleiter der NSDAP, Chef der Kanzlei des Führers, Publizist, SS-Obergruppenführer und Beauftragter Hitlers für die Aktion T4, die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten.1943 erhielt er von Hitler eine Dotation in Höhe von 100.000 Reichsmark. Bouhler hielt sich im Januar 1945 in Dänemark auf, um dort in den deutschen Besatzungstruppen nach frontverwendungsfähigen Soldaten zu suchen. Bei Kriegsende schloss Bouhler sich dem Kreis um Hermann Göring an. Im Gefolge Görings verließ er im April 1945 Berlin. Am 23. April 1945 wurde er bei Berchtesgaden auf Befehl Hitlers von der SS verhaftet und aus allen Ämtern ausgeschlossen, nach Hitlers Suizid am 1. Mai 1945 jedoch wieder freigelassen. Amerikanische Truppen setzten Bouhler mit dem gesamten Göring-Gefolge am 9. Mai 1945 auf Schloss Fischhorn bei Zell am See fest. Am 19. Mai 1945 wurde Philipp Bouhler verhaftet. Auf der Fahrt in das Internierungslager Dachau beging Bouhler kurz vor der Ankunft mit Hilfe einer Blausäure-Kapsel Suizid.
2) Viktor Hermann Brack (* 9. November 1904 in Haaren; † 2. Juni 1948) war Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des Führers (KdF) und SS-Oberführer. Als einer der maßgeblichen Organisatoren der NS-Euthanasie, der sogenannten „Aktion T4“ und von medizinischen Experimenten in Konzentrationslagern wurde er im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nach Kriegsende wurde Brack von den Amerikanern aufgespürt im Lager Moosburg interniert. Als einer von drei Nicht-Ärzten wurde Viktor Brack nach Kriegsende im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt. Für die Auswahl Bracks als Angeklagter dürfte seine Beteiligung an der „Aktion T4“ ausschlaggebend gewesen sein: Nach dem Suizid Philipp Bouhlers galt er zusammen mit Karl Brandt als der ranghöchste Verantwortliche für die NS-Euthanasie. In Vernehmungen im Vorfeld des Ärzteprozesses versuchte Brack, seine Vorschläge zur Röntgenkastration zu leugnen. Als ihn der amerikanische Vernehmungsoffizier mit Dokumenten konfrontierte, brach er weinend zusammen. Im Ärzteprozess, der vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. Juli 1947 dauerte, wurden am 20. August 1947 die Urteile verkündet. Für Brack lautete der Urteilsspruch „Tod durch den Strang“. Das Urteil wurde am 2. Juni 1948 im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg vollstreckt.
3) Curt Schmalenbach (* 24. Februar 1910 in Elberfeld; † 15. Juni 1944 ) war im nationalsozialistischen Deutschen Reich im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms als Arzt bei der Krankenselektion, als stellvertretender Leiter in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein in Pirna und als Leiter der NS-Tötungsanstalt Hadamar tätig. Er kam im Jahr 1944 bei einem Flugzeugabsturz über dem Comer-See ums Leben.
4) Höppner wurde im Juli 1945 in der Nähe von Flensburg festgenommen. Er trat als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf, um die Verantwortlichkeit des Reichssicherheitshauptamtes für die Mordtaten derEinsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Abrede zu stellen. Höppner wurde 1947 nach Polen ausgeliefert und angeblich am 15. März 1949 zum Tode verurteilt. Nach anderen Angaben wurde Höppner in Posen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Zuge der polnischen großen Amnestie nach dem Oktober 1956 kam Höppner danach Anfang 1957 frei, arbeitete als Oberregierungsrat im Wohnungsbauministerium und lebte später unbehelligt in einem Kölner Altersheim.
5) Erhard Wetzel (* 7. Juli 1903 in Stettin; † 24. Dezember 1975) war ein deutscher Jurist, der in der Zeit des Nationalsozialismus im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete für den NS-Chefideologen Alfred Rosenberg als „Judenreferent“ arbeitete. Bekannt geworden ist Wetzel in der Nachkriegszeit aufgrund des von ihm verfassten so genannten Gaskammerbriefes. Der Brief ist das bislang früheste Dokument, das die Verbindung zwischen der T4-Aktion und der systematischen Vernichtung von Juden in Europa bezeugt. Wetzel hat sich darüber hinaus - und nicht zuletzt - durch seine Teilnahme an den Nachfolgekonferenzen der Wannsee-Konferenz an diesen Mord-Aktionen beteiligt. Ebenso hat er bei verschiedensten Aktionen im Rahmen der Umsetzung des Generalplan Ost mitgewirkt, mit dem die Politik einer Germanisierung der besetzten Ostgebiete verfolgt wurde.
Erhard Wetzel wurde für seine Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland nicht zur Verantwortung gezogen. 1945 geriet er zunächst in sowjetische, später dann in Haft in der 1949 neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Am 31. Dezember 1955 wurde er aus der Haft entlassen. Im Februar 1956 wurde er als Heimkehrer anerkannt und im Mai 1956 bekam er eine Anstellung als Ministerialrat im Niedersächsischen Innenministerium, wurde allerdings im Jahre 1958 aus „Gesundheitsgründen“ in den Ruhestand versetzt.[2]
Im Zuge des Eichmann-Prozesses im Jahre 1961 wurde die deutsche Öffentlichkeit auf Erhard Wetzel aufmerksam, weil bekannt wurde, dass er an den Nachfolgekonferenzen zur Wannsee-Konferenz teilgenommen hatte. Wegen seiner Bezüge als Ministerialrat a.D. wurde ein Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Hannover gegen ihn eingeleitet, dass allerdings am 9. Dezember 1961 eingestellt wurde. Bezüglich der Denkschrift, die Wetzel 25. November 1939 verfasst hatte, merkte die Staatsanwaltschaft beispielsweise an: „Der Inhalt der Denkschrift ist zwar niederträchtig und zeugt von einer gemeinen und rücksichtslosen Einstellung“, doch seien „noch verfolgbare Straftaten nicht ersichtlich“.
Quelle: Götz Aly „Endlösung“ Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden