Reimut Schmitt (Berlin) Ferne „Endaufnahmeplätze“ (Teil 2)
Immerhin konnte Heydrich am 12. September 1941 einen organisatorischen Erfolg verbuchen: „Besonders ist die Entscheidung des Führers von außerordentlicher Wichtigkeit“, so schrieb er an Pohl, „nach der die Zuständigkeit des Reichsführers-SS als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (RKF) nunmehr auch in den besetzten Ostgebieten gültig und wirksam ist.
"Das bedeutete freie Hand für Himmler in allen umsiedlungspolitischen Angelegenheiten sowohl im Generalgouvernement1) als auch in der besetzten Sowjetunion. Mit anderen Worten: Der Minister für die besetzten Ostgebiete, Rosenberg, und seine Reichskommissar mussten sich – theoretisch, mehr bedeutete die Führerentscheidung erst einmal nicht – den bevölkerungspolitischen Anordnungen Himmlers beugen. In dessen Kompetenz gehörte die „Lösung der Judenfrage“.
Vom 13. Bis 15. September tagten 135 Mitglieder der Amtsgruppe III B des Reichssicherheitshauptamtes unter Leitung ihres Chefs Ehlich1) zum Thema „Volks- und rassenpolitische Lage“. Da der Inhalt der Vorträge und Diskussionen geheim war, wurden „nur die der Öffentlichkeit zugänglichen Dinge aktenvermerksmäßig niedergelegt“. Die Vorträge hatten unter anderem folgende Titel: „Die Organisation und zukünftige Entwicklung der Volkstumsarbeit“, „Die Minderheitenfrage und ihre Lösung“, „Die Umsiedlung der Volksdeutschen und die Siedlungsaufgabe im Osten“, „Die volkspolitische Lage im Osten“.
Am 7. Oktober erließ Heydrich eine umfangreiche, verwaltungstechnische „Vorschrift über den Aufbau und die Verwaltung der Ein- und Auswandererdienststellen der Sicherheitspolizei“. Die Begründung entsprach dem Generalplan Ost des RKF ebenso wie dem Memorandum Höppners: „Durch die Besetzung neuer Gebiete haben sich die Aufgaben der Sicherheitspolizei auf dem Gebiet der Ein- und Auswanderung erheblich erweitert.“ Über die Aussiedlung heißt es im Schlussparagraph 28 knapp und durchaus bedrohlich: „Für die Tätigkeit der Abteilung II – Aussiedlung – und der Abteilung III – Polizeieinsatz – gelten die vom Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes ergehenden besonderen Anordnungen.“
Ähnlich ungenau hatte sich auch Höppner3) in seinem Memorandum zur Frage der Aussiedlung geäußert, aber – anders als Heydrich in seiner zumindest halböffentlichen Vorschrift – explizit begründet: „Auf die weitere Organisation dieser Aufnahmegebiete (in der besetzten Sowjetunion) einzugehen, wäre Phantasterei, da zunächst die grundlegenden Entscheidungen ergehen müssten. Wesentlich ist dabei im übrigen, dass von Anfang an völlige Klarheit darüber herrscht, was nun mit diesen ausgesiedelten, für die großdeutschen Siedlungsräume unerwünschten Volksteilen endgültig geschehen soll, ob das Ziel darin besteht, ihnen ein gewissen Leben für dauernd zu sichern, oder ob sie völlig ausgemerzt werden sollen.“
Höppner ging demnach Anfang September noch davon aus, dass „die endgültige Lösung der Judenfrage“ ein wesentlicher, erster Teil des allgemeinen Aussiedlungsprogramms sei und die Juden all der Staaten betreffen werde, die „unter deutschem Einfluss“ standen. Den systematischen Mord sah er noch nicht als beschlossen an. Wohl aber war ihm bekannt, dass darüber nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Initiativen gesprochen wurde. In der ihm eigenen Mischung aus Vorschlag und Forderung drang er auf eine Grundsatzentscheidung. Die Motive liegen auf der Hand: Zum einen wusste Höppner nur zu gut, wie langwierig und aussichtslos das Planen von Massendeportationen sein konnte; zum zweiten musste ihm, da der deutsche Vormarsch im Osten stagnierte, mittlerweile klar sein, dass ihm bis zum nächsten Sommer kaum Transportkapazität zur Verfügung stehen würden; zum dritten bezog er sich – auch dann, wenn mit keinem Wort davon die Rede ist – auf seinen Vorschlag vom 16. Juli und erweiterte ihn. Hätte Höppner damals, sechs Wochen zuvor, den Einsatz eines „schnelle wirkenden Mittels“ gegen die etwa 100.000 arbeitsunfähigen Juden des Warthegaus erwogen, so forderte er jetzt die Entscheidung darüber, ob der Begriff „Evakuierung“ weiterhin die Deportation vieler Millionen Menschen ins Elend bedeuten sollte – oder ihren sofortigen Tod. Die Antwort auf Höppners Frage betraf in der Tendenz alle „in den großdeutschen Siedlungsräumen unerwünschten Volksteile“, allen voran – und jetzt in ihrer Gesamtheit - die Juden Europas.
1) Der Begriff Generalgouvernement bezeichnet Gebiete der früheren Zweiten Polnischen Republik, die 1939–1945 vom Deutschen Reich militärisch besetzt und nicht unmittelbar in dasReichsgebiet eingegliedert worden waren, sowie die dort errichteten Verwaltungsstrukturen unter dem Generalgouverneur und NSDAP-Funktionär Hans Frank und seines Stellvertreters Arthur Seyß-Inquart mit Sitz in Krakau. Es umfasste zunächst eine Fläche von 95.000 km² und wurde am 1. August 1941 um den zuvor sowjetischen Distrikt Galizien auf 142.000 km² erweitert.
2) Hans Ehlich (* 1. Juli 1901; † 30. März 1991) war im nationalsozialistischen Deutschen Reich Arzt und SS-Standartenführer, Leiter der Amtsgruppe III B „Volkstum und Volksgesundheit“ im Reichssicherheitshauptamt und Angehöriger der Einsatzgruppe V im deutsch besetzten Polen. Nach Entlassung aus der Internierungshaft war Ehlich wieder als Arzt tätig. Im Oktober 1948 wurde er als Mitglied der SS, die im Nürnberger Prozess zu einer verbrecherischen Organisation erklärt worden war, zu einem Jahr und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da die Strafe durch die Internierungszeit als verbüßt galt, konnte Ehlich sich schließlich in Braunschweig wieder als praktischer Arzt niederlassen. Mehrere Ermittlungsverfahren in den sechziger Jahren führten letztlich nicht zu einer erneuten Anklage. Ehlich arbeitete und lebte so weiter in Braunschweig, wo er am 30. März 1991 starb.
3) Rolf-Heinz Höppner wurde im Juli 1945 in der Nähe von Flensburg festgenommen. Er trat als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher auf, um die Verantwortlichkeit des Reichssicherheitshauptamtes für die Mordtaten derEinsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD in Abrede zu stellen. Höppner wurde 1947 nach Polen ausgeliefert und angeblich am 15. März 1949 zum Tode verurteilt. Nach anderen Angaben wurde Höppner in Posen zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Zuge der polnischen großen Amnestie nach dem Oktober 1956 kam Höppner danach Anfang 1957 frei, arbeitete als Oberregierungsrat im Wohnungsbauministerium und lebte später unbehelligt in einem Kölner Altersheim.
Quelle: Götz Aly „Endlösung“ Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden