Reimut Schmitt (Berlin) Die Schuld der Ärzte (Teil 3)
Es wurden sogar Häftlinge an die Firma Bayer, Teil der I.G.Farben, „verkauft“, wo sie als Versuchskaninchen für die Erprobung neuer Medikamente eingesetzt wurden. In einem Schreiben von Bayer an die Lagerleitung von Auschwitz heißt es: „Der Transport mit 150 Frauen traf in guter Verfassung hier ein. Allerdings gelang es uns nicht, verlässliche Ergebnisse zu erzielen, weil sie während der Tests starben.
Wir möchten sie daher bitten, uns eine weitere Gruppe Frauen gleicher Größe und zum gleichen Preis zu schicken.“ Diese Frauen, die bei einer Versuchsreihe mit Narkosemitteln starben, hatten Bayer 170 Reichsmark pro Person gekostet.
Doch so schrecklich das Leid der Betroffenen auch war, so sind es nicht die Namen Clauberg, Schumann, Wirth (Siehe Beitrag „Schuld der Ärzte Teil 2“ vom Juli 2015) oder Bayer, die gemeinhin mit den menschenverachtenden medizinischen Experimenten in Auschwitz in Verbindung gebracht werden, sondern der eines 32-jährigen gutaussehenden Kriegsveteranen und Träger des Eisernen Kreuzes, der im März 1943 nach Auschwitz kam: Dr. Josef Mengele. 1) Mehr als irgendjemand sonst ist Mengele zum Synonym für Auschwitz geworden. Dies ist zum einen auf seine Persönlichkeit zurückzuführen, denn Mengele genoss die Macht, die er in Auschwitz ausübte, und nutzte sie bei seinen „Forschungen“ hemmungslos aus; zum anderen spielten aber auch äußere Umstände eine Rolle, denn er kam genau zu dem Zeitpunkt ins Lager, als die Krematorien in Birkenau fertiggestellt waren und Auschwitz im Begriff war, in seine zerstörerischste Phase einzutreten.
Die Häftlinge lernten Mengele als zwiespältige Persönlichkeit kennen. Wenn er in seiner tadellosen SS-Uniform vor ihnen stand, konnte er lächeln und charmant sein – oder aber unbeschreiblich grausam. Zeugen beobachteten, wie er eine Mutter und ihr Kind auf der Rampe erschoss, weil sie sich ihm widersetzten, aber andere erinnern sich, dass er nur freundliche Worte für sie hatte. Die tschechoslowakische Gefangene Vera Alexander erlebte die Widersprüchlichkeit seines Wesens aus nächster Nähe, als sie Kapo eines Blocks war, in dem polnische und Zigeunerkinder wohnten: „Mengele kam jeden Tag ins Lager – er brachte Schokolade mit… Wenn ich mit den Kindern schimpfte, bekam ich oft zu hören: ‚Wir erzählen dem Onkel, wie böse du bist.‘ Mengele war für sie der „liebe Onkel“. Aber Mengele hatte für dieses Verhalten einen Grund: Die Kinder waren für ihn nichts weiter als Rohmaterial für seine Experimente. Vera Alexander erlebte, wir Kinder nach einem Besuch beim „lieben Onkel“ schreiend vor Schmerzen ins Lager zurückgebracht wurden.
Mengele, der sich auf Erbbiologie spezialisiert hatte, beschäftigte sich intensiv mit der Zwillingsforschung. Im Lager kursierte das Gerücht, dass er die genauen Gründe für die Entstehung von Mehrlingsschwangerschaften untersuche, um Methoden zu entwickeln, mit denen deutsche Frauen in kürzerer Zeit mehr Kinder zur Welt bringen könnten. Doch wahrscheinlicher ist, dass er sich vor allem für die Rolle der Erbanlagen bei der körperlichen und charakterlichen Entwicklung interessierte, ein Thema, von dem die nationalsozialistischen Wissenschaftler besessen waren.
Eva Mozes Kor war 1944 zehn Jahre alt und wurde gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Miriam für Mengeles Forschungszwecke missbraucht: „Mengele kam jeden Tag nach dem Appell herein. Er wollte wissen, wieviel Versuchskaninchen er noch hatte. Dreimal in der Woche wurden mir die Arme eingeschnürt, um den Blutfluss zu vermindern, und dann nahmen sie mir eine Menge Blut aus dem linken Arm ab, manchmal so viel, dass ich ohnmächtig wurde. Jedes Mal, wenn sie mir links Blut abnahmen, gaben sie mir mindestens fünf Spritzen in den rechten Arm. Nach so einer Injektion wurde ich schwer krank, und am nächsten Morgen kam Dr. Mengele mit vier Ärzten ins Zimmer. Er sah sich meine Fieberkurve an und sagte mit einem sarkastischen Lachen: ‚Zu schade, dass sie so jung ist. Sie hat nur noch zwei Wochen zu leben.‘ Ich verlor ständig das Bewusstsein. In diesem Dämmerzustand sagte ich mit immer wieder: ‚Ich muss überleben, ich muss überleben‘. Sie warteten nur darauf, dass ich starb. Wenn ich gestorben wäre, hätten sie meine Zwillingsschwester Miriam sofort in Mengels Labor geholt und mit einer Injektion ist Herz getötet, und dann hätte Mengele eine vergleichende Autopsie vorgenommen.
“ Eva Moses Kor überstand den Fieberanrfall und rettete damit nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Schwester.
1) Josef Mengele (* 16. März 1911 in Günzburg; † 7. Februar 1979 in Bertioga, Brasilien) war ein deutscher Mediziner und Anthropologe. Er wurde 1937 Assistent des Erbbiologen und Rassenhygienikers Otmar von Verschuer und meldete sich 1940 freiwillig zur Waffen-SS. Nach einem Fronteinsatz als Truppenarzt bei der 5. SS-Panzer-Division „Wiking“ wurde Mengele von Mai 1943 bis Januar 1945 als Lagerarzt im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz eingesetzt. In dieser Funktion nahm er Selektionen vor, überwachte die Vergasung der Opfer und führte menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen durch. Er sammelte Material und betrieb Studien zur Zwillingsforschung, zu Wachstumsanomalien, zu Methoden der Unfruchtbarmachung von Menschen und Transplantation von Knochenmark sowie zur Therapie von Fleckfieber und Malaria. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er zwar als NS-Kriegsverbrecher gesucht, aber nie gefasst. Er starb 1979 im brasilianischen Badeort Bertioga. Mengele ertrank, als er beim Schwimmen im Meer einen Schlaganfall erlitt. 1985 wurden im Zuge einer intensivierten Fahndung seine unter falschem Namen beerdigten Gebeine entdeckt und identifiziert.
Mengele rückte erst während der frühen 1960er Jahre im Zuge der Ermittlungen zu den Auschwitzprozessen ins engere Blickfeld der Strafverfolger. Zuvor hatte er bereits einige Jahre unter seinem echten Namen ungestört in Argentinien gelebt. Seine weitere Flucht über Paraguay nach Brasilien gab zu unzähligen Spekulationen und Legendenbildungen Anlass, konnte aber erst nach der Entdeckung seiner Leiche aufgeklärt werden.
Quelle: Laurence Rees „Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“ und Wikipedia